Heimkehr am Morgen (German Edition)
konnte man bei Fremden nicht vorsichtig genug sein. Spione waren überall, wie die American Protective League ihren Mitgliedern immer wieder predigte.
»Wo haben Sie Ihre Manieren? Der Mann ist unser Pfarrer«, zischte Wilson Dreyer. »Sie dagegen kenne ich nicht.«
»Und wenn er der König von England wär, wär’s mir auch egal. Er soll warten wie jeder andere. Ich hab einen faulen Zahn, derdringend gezogen werden muss, aber der Zahnarzt ist nicht da und der Barbier traut sich nicht ran.«
Trotz des Lärms hörte Adam das Stakkato von Absätzen auf den Holzdielen. Jessica trat aus dem Arbeitszimmer. Sie wirkte erschöpft, aber beherrscht. Ihre hochgekrempelten Ärmel enthüllten schlanke, weiße Arme, und sie trug eine Schürze mit Latz wie ein Lebensmittelhändler oder Limonadenverkäufer. Um ihren Hals hing ein Stethoskop. Selbst in dem ganzen Chaos wirkte sie noch immer bezaubernd.
»Ach, Adam, du bist es«, sagte sie. »Ich dachte doch, ich hätte die Glocke gehört.« Sie blickte sich rasch im Wartezimmer um. »Es sind aber noch viele Patienten vor dir dran.«
»Nein, nein, ich bin nicht krank, ich, nun …« Er deutete diskret auf Blumen und Pralinen. »Mir war nicht klar, dass du so viel zu tun hast.«
Beim Anblick seiner Geschenke überzog eine leichte Röte ihre Wangen. »Das ist sehr nett von dir, aber …« Sie brach ab und betrachtete ihn. »Komm mit nach hinten.«
»He – was ist mit meinem Zahn? Ich war vor ihm da!«, beklagte sich der verlotterte Mann, den Kopf Richtung Adam ruckend.
»Ich weiß, und ich kümmere mich um jeden Einzelnen von Ihnen, sobald ich kann.« Sie wandte sich um und deutete mit einer Kopfbewegung auf ihr Untersuchungszimmer.
»Es tut mir leid«, begann Adam, sobald sie außer Hörweite waren. »Das ist wohl nicht der passende Augenblick.« Er hielt ihr Blumen und Pralinen hin. Sie nahm beides entgegen und legte es auf dem Arbeitstisch ab.
»Glaub bitte nicht, dass ich mich über diese Geste nicht freue, Adam«, sagte sie lächelnd. »Es ist nur so, dass es bisher ein sehr, na ja, … anstrengender Tag war. Ich musste Amy nach Hause schicken. Sie ist mir eine wunderbare Hilfe, aber hier geht es zu wie in einem Tollhaus, und sie ist diesen Trubel nicht gewohnt.«
Er fasste neuen Mut. Anscheinend war er ihr nicht zu nahegetreten. Aus dem oberen Stock drang das dünne Gewimmer eines Kindes. Er blickte auf.
»Ich habe zwei Patienten oben im Krankenzimmer einquartiert, aber ich brauche mehr Platz. Die Praxis reicht nicht aus, um all die Menschen zu versorgen, die meine Dienste benötigen werden. Und ich kann keine Hausbesuche machen.«
»Du bräuchtest ein Krankenhaus.«
Sie nickte. »Ja, das wäre das Beste, nur gibt es in Powell Springs keines. Außerdem brauche ich mehr Personal, aber daran arbeite ich bereits. Du bist doch im Stadtrat. Kennst du irgendwo in der Nähe ein größeres Gebäude, das wir nutzen könnten – wie beispielsweise die Versammlungshalle der Farmervereinigung oder einen anderen Treffpunkt?«
Er dachte einen Moment nach. »Wie wäre es mit der Schulturnhalle? Die Schulen sind doch sowieso geschlossen.«
»Das wäre perfekt!« Sie blickte ihn so dankbar an, dass er gleich um etliche Zentimeter wuchs. »Ich möchte Bürgermeister Cookson nicht damit behelligen – kann der Stadtrat das auch ohne ihn arrangieren? Würdest du das in die Wege leiten?«
»Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum.« Durch Jessicas Aufmerksamkeit von neuem Mut erfüllt, war Adam davon überzeugt, dass er alles bewerkstelligen könnte.
»Soso. Jetzt soll ich Ihnen also plötzlich helfen,
Doktor
Layton?«
Wieso schafften es manche Menschen nur, ihren Titel wie ein Schimpfwort klingen zu lassen?, fragte sich Jessica. Sie war durch den Regen gelaufen und etwas beklommen die Stufen zu Mae Rumsteadts Wohnung emporgestiegen. Ihr Unbehagen war durchaus begründet gewesen. Mit zusammengebissenen Zähnen stand sie im Wohnzimmer und fühlte sich alles andere als willkommen. Mae wohnte über ihrem Café, und die Zimmer waren vollgestopft mit Zeitungsstapeln und einem Sammelsurium von Möbelstücken. In der winzigen Küche war ein Stück Wäscheleine gespannt, an dem Kräuter und andere Pflanzenzum Trocknen hingen. Es duftete stark nach Rosmarin und Salbei.
»Ich bin für
jede
Hilfe dankbar, die ich bekommen kann«, betonte Jessica. »Immer mehr Menschen werden krank, und ich bin auf der Suche nach freiwilligen Helfern. Ich brauche Frauen, die Erfahrung mit
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