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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Alleen; sie sah die Bäume im Frühling blühen, grüßte Baumriesen mit üppigen Sommerkronen, die im Herbst goldene Kleider trugen und im November Trauer. Trauer wie ihr Herz.
    Als schamlose, sadistische Lügner erschienen ihr die Erinnerungen an die ausgelöschte Welt. Jedes einzelne Bild gab vor, es sei keinem Mitglied der Familie Sternberg ein Leid geschehen. In der Rothschildallee 9 stand der geschätzte Handelsmann Johann Isidor Sternberg am Hoftor. Er schaute zum Dach, über das die Tauben flogen, rieb seine Hände aneinander und sagte: »Besitz verpflichtet.«
    »Ich hör gern, wenn du das sagst«, lächelte Betsy. »Unsere Kinder müssen auch lernen, so zu denken.«
    »Seit wann lernen Kinder von ihren Vätern?«
    Im Wintergarten trugen exotische Pflanzen farbenfrohe Blüten, im Hinterhof zwitscherten die Vögel auf dem Kirschbaum. Sauerkirschen waren es gewesen. Die Marmelade aus dem Hause Sternberg war im Freundeskreis berühmt gewesen. Und Frau Meyerbeer immer neidisch, weil ihre Kirschmarmelade nicht fest genug wurde. Auf der Fensterbank in der Küche standen zwei Töpfchen mit einer Bauchbinde aus blau-weißem Küchenstoff. »Josepha, gehen Sie um Himmels willen sparsam mit unserem Schnittlauch um. Ich brauche ihn doch für die Feiertage.«
    Die Bilder waren gnadenlos. Sie wüteten im Kopf und peitschten die Seele; sie schlugen zu wie die Mörder in Uniform, die die Männer, die Frauen und die Kinder in die Viehwaggons geprügelt hatten, die nach Osten abgingen. Mach die Augen zu, Betsy. Nicht mehr denken, nicht zurückschauen, auf nichts mehr hoffen, bloß am Leben bleiben. Das hast du deinem Mann versprochen. Wer Kinder hat, darf nicht aufgeben. Aufgeben ist Sünde.
    Betsys Gedächtnis hatte Johann Isidor und die Kinder immer verblüfft. Vor allem Josepha hatte nicht glauben wollen, dass es mit rechten Dingen zuging, wenn sich Betsy an jede Nebensächlichkeit erinnerte. Josepha, die Stütze der Familie, die besorgte Glucke, die geliebte Vertraute war ja nur zwei Jahre älter als Betsy. Ohne ihr kleines schwarzes Notizbuch war sie jedoch schon als junge Frau verloren gewesen. Nie hatte sie sich merken können, welche Zeitung für den Hausherrn auf dem Frühstückstisch zu liegen hatte und welche im Salon; zu den lindgrünen Tassen mit dem Goldgitter hatte sie immer die falsche Kaffeekanne gestellt, und Betsys Schwestern in Pforzheim hatte sie meistens miteinander verwechselt. Erwin hatte Josepha immer geneckt. »Mach dir doch nichts draus, Josepha. Hauptsache, du achtest darauf, dass Vater nicht ›Die Gartenlaube‹ kriegt und wir nicht aus der Untertasse trinken müssen. Wir sind nämlich ganz feine Leute, musst du wissen. Wir lesen die Gartenlaube nur im Keller, wo uns keiner sieht, und wir trinken nie aus Untertassen.«
    Ach, nur einmal wieder Erwins Scherze hören, ihm endlich sagen dürfen, wie leid es ihr tat, dass sie und sein Vater ihn zu streng behandelt und seinen wahren Charakter zu spät erkannt hatten. Noch am Tag vor seiner Deportation in den Osten hatte Johann Isidor davon gesprochen, wie sehr sich Erwin immer um seine Geschwister und vor allem um Claudette gesorgt hatte. »Du hattest recht, Josepha«, leistete Betsy Abbitte, »Erwin war wirklich etwas Besonderes, aber seine schlaue Mutter war blind. Blind wie eine Fledermaus.«
    Ob Josepha wohl den Krieg und die Bomben und die Angst überlebt hatte? Und wenn ja, wo? Am letzten Tag der Frankfurter Zeitrechnung, als sie in der Nacht zu den Sternbergs gekommen war, war sie eigensinnig wie immer gewesen. Sie hatte nicht wahrhaben wollen, dass es ein Abschied für immer sein würde, sie war nicht zu überzeugen gewesen, dass Palästina von Deutschland so fern und so unerreichbar war wie der Mond. Josepha Krause aus Bad Nauheim, die nie über die Stadtgrenze von Frankfurt hinausgekommen war, hatte nicht begriffen, dass sich für Johann Isidor, Betsy, Victoria und die beiden Kleinen die Hölle unmittelbar nach der Frankfurter Großmarkthalle auftun würde. »Nicht weinen, Josepha, nicht hier, nicht heute. Fanny und Salo wissen doch von nichts.« Vielleicht hatte Josepha, die nie aufgab, Kontakt zu Anna, die aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie sie. Josepha, um Himmels willen, hören Sie auf zu hoffen. Wann werden Sie endlich begreifen, dass der liebe Gott Ihnen nicht einen Kopf gegeben hat, damit Sie mit ihm gegen Wände rennen?
    Scham und Verzweiflung würgten Betsy. Weshalb hatte sie in Theresienstadt so selten an Josepha gedacht? Ihr

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