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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Vielleicht, weil ich im Kinderhaus gearbeitet habe. Man hat immer gesagt, die Leute, die im Kinderhaus arbeiten, kommen zuletzt dran.«
    Selbst durch die von Lehmspritzern, Straßenstaub und toten Mücken verschmierten Fensterscheiben des Busses strahlte Sommerlust, flirrte Hitze. Wolken segelten in blaue Unendlichkeit hinein. Am Ufer eines Bachs leuchteten schwerköpfige Butterblumen. Vorsichtig, Kinder, Butterblumen sind gefährlich. Am Rand der von Bombeneinschlägen und Schlaglöchern aufgerissenen Straße wuchs kräftiges, sommergrünes Gras. Friedensgras! Auch die Kirschbäume hatten das Himmelsfeuer überlebt. Die Früchte leuchteten rot. Vögel mit schwarzem Gefieder und gelbem Schnabel hockten auf den Ästen und machten reiche Ernte. Waren es Amseln? Betsy wunderte sich, dass sie das Wort noch kannte. Von Vögeln hatte in Theresienstadt keiner gesprochen. Hatte es dort überhaupt Vögel gegeben? Unmittelbar vor der Abfahrt des Busses in Regensburg hatte Betsy Spatzen gesehen, die ersten seit Jahren.
    »Es heißt Spatz, Erwin, nicht Watz. Wirst du denn nie lernen, ordentlich zu sprechen?«
    »Immer«, lachte Erwin, »immer, immer, Zimmer.« Drei Jahre war er alt, er hatte noch Locken und war Josephas Liebling. »Mein Hätschelbub«, hatte sie immer gesagt – selbst als er schon aufs Gymnasium ging und sie ihm heimlich Geld zustecken musste, damit sein Vater nicht dahinterkam, dass er sein Taschengeld verwettete. »Josepha, lassen Sie ihn nicht von der Torte naschen. Die ist doch für die Damen vom Kaffeekränzchen.« Kaffeekränzchen, welch ein albernes, hirnverbranntes Wort! So richtig ein Wort für Leute, die sich die Illusion machten, Juden könnten eines Tages in Deutschland zur Oberschicht gehören und würden auch in den Adel einheiraten.
    Betreten floh Betsy aus der Welt der plaudernden Bürgersfrauen und fein gedeckten Kaffeetafeln. Ihr war es, als hörte sie Erwin lachen. Er hatte nie laut gelacht, war immer spöttisch gewesen, geistreich und klug. »Ja«, bestätigte Betsy, »klug. Bei Weitem der Klügste.« Wie sollte Erwin in Palästina erfahren, dass seine Mutter noch lebte? Sie hatte seit 1939 nichts mehr von ihm und Clara gehört und konnte sich auch nicht erinnern, ob die beiden nach Haifa oder nach Tel Aviv gezogen waren. Auch von Alice wusste sie nur, dass sie geheiratet hatte und in Südafrika lebte, aber den Familiennamen ihrer jüngsten Tochter kannte sie nicht.
    Mit einem Mal wurde Betsy bewusst, dass sie auch Annas Adresse nicht hatte. Ob Anna überhaupt noch Haferkorn hieß, oder hatte sie endlich ihren Hans heiraten können? Und würde es nicht neues Leid bringen, nach Anna und Hans zu fahnden? Was, wenn die berichten mussten, dass aller Mut vergebens gewesen war und die Nazis Fanny doch gefunden und deportiert hatten?
    »Die Kinder haben sie doch auch geholt«, sagte sie.
    »Alle hat man geholt«, bestätigte die Frau neben ihr.
    Ein Schwalbenschwarm, wie ihn die kleine Betsy als Kind mit dicken schwarzen Strichen auf blaue Papierbögen gemalt hatte, flog hoch. Das Licht war hell und weiß. Wie auf Sizilien, kam es Betsy in den Sinn. Sie hatte einmal eine Postkarte aus Palermo bekommen. Von wem und wann? Wer reiste nach Sizilien und schickte bunte Ansichtskarten nach Hause? Wer ging denn aus freien Stücken auf Reisen? »Ich keinen Tag mehr, das kannst du mir glauben!«, schwor Betsy. Sie genierte sich, als sie ihre Hand sah – die Hand einer Hilflosen, zur Faust geballt! Laute Zwiegespräche mit Gott hatte sie stets als primitiv, als ihrer nicht würdig empfunden. Ihre Stirn brannte. Sie kühlte den Kopf an der Scheibe, sah Funken, einen Feuerball, sah Vernichtung und Tod. »Mein Gott, es waren doch nicht nur die letzten vier Jahre. Es ging doch schon 1933 los«, stöhnte sie. Weshalb dröhnte ein einziger Seufzer wie Geschützdonner in den Ohren, sobald man sich nicht in Acht nahm? Bestimmt war das früher nicht so gewesen.
    »Bestimmt nicht«, bestätigte sie.
    Frankfurt war zum Greifen nahe. Sie fühlte keine Erregung, keine Freude. Freude würde es nie mehr geben in einer Stadt, die ihre Bürger dem Henker überlassen hatte. Wann war endlich Schluss mit den trügerischen Botschaften und den Lebenslügen, mit dem falschen Mitleid und den großen Worten? Und doch erschienen Betsy helle, freundliche, schöne Bilder. Sie sah lichtgraue Häuser mit schlanken Schornsteinen, sah Kirchenspitzen und Brücken, den Main, die großen Parks, die kleinen anheimelnden Anlagen und die breiten

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