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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Gefahren; sie enterten das Sperrgebiet der Amerikaner, lungerten um Küchen und Kantinen herum und kamen mit Lebensmitteln nach Hause, die ihre Mütter noch nie gesehen hatten. Zu Tode erschöpfte Flüchtlinge aus dem Osten strömten in die Stadt, vergrößerten die Wohnungsnot und verschlimmerten die furchtbare Ernährungslage. Es gab Krankheiten wie im Mittelalter. Auch feine Leute hatten Läuse, und jeder hatte Angst vor dem Hunger in der Nacht.
    Ehemänner, Väter und Söhne, die Brüder und die Verlobten kehrten nicht aus dem Krieg zurück. Wer es gut getroffen hatte, war in westliche Kriegsgefangenschaft geraten, war nach Amerika, England oder Frankreich gebracht worden. Die meisten Kriegsgefangenen der Westmächte durften jedoch im ausgebluteten Deutschland hungern. Von den deutschen Soldaten in den Sowjetlagern kam noch nicht einmal ein Lebenszeichen. In Deutschland gab man der Demokratie die Schuld an der Misere. »Sie hat uns nichts gebracht außer Kalorien und Stromsperre«, diagnostizierten die Verbitterten und Unbelehrbaren, und sie beklagten das Unrecht, das dem deutschen Volk widerfahren wäre. Frau Schmand sprach für die ganze Nation, als sie Anna erklärte: »Wir haben doch immer nur getan, was man uns befohlen hat. Und nun gibt man uns die ganze Schuld.«
    Das sagte die Frau des Ex-Blockwarts auch am 5. September 1945. Das Gespräch fand im Hausflur statt. Frau Schmand, in gelb-schwarz geblümter Kittelschürze und mit grauem Kopftuch, hatte einen braunen Glasfiberkoffer in ihrer Rechten und das Fläschen mit Baldriantopfen, das sie seit dem Einmarsch der Amerikaner stets bei sich trug, in der Schürzentasche. Willibald und Gudrun Schmand befanden sich im Umzug.
    Als der Frieden auf sie niedergekommen war, waren sie zunächst unbehelligt geblieben und auch überzeugt, ihre exponierte Vergangenheit würde keine Folgen für ihre Zukunft haben. Am letzten Tag vom August erhielten die Schmands jedoch den Befehl, ihre Wohnung »unverzüglich, spätestens in den nächsten fünf Tagen« zu räumen. »Küchenherd, sämtliche Heizöfen, der Badezimmerofen, Waschbecken und Badewanne sind zurückzulassen«, war vom Frankfurter Wohnungsamt angeordnet worden. Dem Ehepaar, das so lange das Kommando hatte führen dürfen, wurde die kleinste der vier Mansardenstuben zugewiesen. Bis Kriegsende hatte der Raum als Hort für Wurstdosen, Mehl und Reis, Kleiderstoffe, Wäsche und Haushaltsgeräte gedient – alles Beutegut, das Willibald Schmand im Laufe der Jahre bei Versteigerungen von ehemals jüdischem Besitz ergattert hatte. »Legal erworben«, pflegte er nach Kriegsende hervorzuheben, wenn er sich unter Gleichgesinnten befand und die Ungerechtigkeit anprangerte, die pflichttreuen Männern wie ihm widerfahren war. Allerdings sprach er selbst mit Vertrauten nicht von den silbernen Leuchtern und den zwei Ölbildern, die unmittelbar nach der Pogromnacht im November 1938 in seinen Besitz gekommen waren.
    Die ehemalige Vierzimmerwohnung der Schmands – Benutzung des Vorgartens eingeschlossen – lag im Parterre; die jüdische Familie Wolfsohn hatte die Räume ja im Juni 1939 über Nacht verlassen müssen. Nun wohnte dort die fünfköpfige Familie Dietz. Hans hatte nach zahlreichen beharrlichen Eingaben endlich die für ihn zuständige Amtsstelle von seinem einwandfreien Lebenslauf während der Nazizeit überzeugen können. Ausschlaggebend waren seine Haft im KZ Dachau und »die glaubhaft dargestellte und von der benannten Person bestätigte Rettung eines jüdischen Kindes unter Gefahr für das eigene Leben« gewesen.
    Die geräumige Wohnung, das Gärtchen mit Zwiebeln und Schnittlauchpflanzen, die Frau Schmand eigenhändig in die Erde gesetzt hatte, vor allem jedoch der Gedanke, das Schicksal habe sie endlich für die Jahre von Leid und Angst entschädigt, sorgten bei Hans und Anna für ein noch nicht einmal in ihrer besten Zeit gekanntes Lebensgefühl. Gemessen an dem, was sie erlebt und überstanden hatten, erschien ihnen nun der Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens leicht; sie waren optimistisch, fröhlich und manchmal, wenn sie imstande waren, wenigstens für kurze Zeit den schrecklichen Weg zu vergessen, den Johann Isidor und die Seinen hatten gehen müssen, waren sie wieder jung.
    Sophie und Erwin, die im Luftschutzkeller erfahren hatten, was es hieß, ein Kriegskind zu sein, und die sich in der alten Wohnung das Bett hatten teilen müssen, waren außer sich vor Freude. Tagelang tollten sie kreischend durch

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