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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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waren, ängstigten sie. Die kleinste Abweichung von der Norm machte sie unsicher, eine verlorene Haarklammer oder eine abgebrochene Bleistiftspitze empfand sie als persönliche Schuld. Kinderfröhlich war sie nur im Umgang mit Sophie und Erwin. Anna und Hans spürten, wie sehr Fanny litt, jedoch wussten sie zu wenig von der Gnadenlosigkeit des Gedächtnisses, um ihr zu helfen. Ihre Ratlosigkeit quälte sie. Beide hatten das Gefühl, sie würden das Kind, das von ihren dreien am meisten Fürsorge brauchte, im Stich lassen. Dass Fanny so widerborstig und patzig wäre wie andere Mädchen in ihrem Alter, wünschten sie sich. »Einer dieser unausstehlichen Backfische, die dauernd mit dem Fuß aufstampfen und ihre Eltern um den Verstand bringen und denen man jeden Tag eine saftige Ohrfeige verpassen möchte«, malte sich Hans aus. »Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe drei Schwestern. Und was für welche.«
    »Ich auch«, sagte Anna. »Wenn ich daran denke, was Fannys Mutter alles unternommen hat, um Mauern einzureißen und ihren Willen durchzusetzen, und wie ich Vicky um ihren Mut und ihre Dreistigkeit beneidet hab, bricht mir das Herz. Und natürlich frage ich mich, was ich bei Fanny falsch gemacht habe.«
    »Du hast ihr das Leben gerettet«, erinnerte sie ihr Mann. »Du hast Mut und Nächstenliebe für ein ganzes Volk gehabt. Jetzt lass mal auch den seinen Teil tun, der es zugelassen hat, dass Menschen wie Schlachtvieh in den Tod getrieben worden sind. Und der es immer noch zulässt, dass ein Kind nach seinen Eltern schreit und ohne Antwort bleibt.«
    Fanny sprach nie von Vater, Mutter und Bruder, sie fragte auch nicht nach den Großeltern. Erwin, Clara und Claudette in Palästina erwähnte sie selten, ein Mal auch Alice in Südafrika; sie wollte wissen, ob der Nachkömmling der Familie Sternberg hübsch gewesen wäre und eine gute Schülerin. »War sie verwöhnt? Hat sie viele Freundinnen gehabt?«
    »Willst du ein Bild von ihr sehen?«, fragte Anna. »Ich habe alle unsere Fotoalben gerettet. Es gibt herrliche Bilder. Besonders von Alice. Dein Onkel Erwin war ein Meisterfotograf.«
    »Ein anderes Mal«, sagte Fanny, »ich sollte doch zum Bäcker gehen.«
    Auch ihre Zukunft schien sie nicht zu interessieren. Die Tochter von Rechtsanwalt Doktor Friedrich Feuereisen, an dessen Überleben im holländischen Exil gezweifelt werden musste, weil auch ein halbes Jahr nach Kriegsende keine Suchanfrage das Haus Dietz erreicht hatte, schaute nicht nach vorn. Anna hatte nur ein einziges Mal die Courage, das Thema anzusprechen. »Wenn die Schulen endlich wieder aufmachen, müssen wir dich schleunigst anmelden«, sagte sie. »Wir haben an die Herderschule hier in der Wittelsbacherallee gedacht. Ich weiß, du hast Jahre verloren, doch ich bin ganz sicher, dass du es schaffen wirst. Du hast einen guten Kopf zum Lernen. Ganz anders als ich. Bei mir hat das Kapieren immer doppelt so lange gedauert wie bei den anderen.«
    Fanny war entsetzt. Sie presste ihren Rücken gegen die Stuhllehne und starrte auf den Boden. »Ich kann doch nicht mit deutschen Kindern in die Schule gehen«, stieß sie hervor. Schweiß tropfte von ihrer Stirn. Sie stand auf und ging zum Fenster, drehte sich aber sofort um. »Was soll ich denn denen sagen, wo ich die ganze Zeit gewesen bin? Warum ich überhaupt noch lebe. Das werden sie bestimmt wissen wollen. Fremde Leute wollen doch immer alles wissen. Alles.«
    »Aber Fanny, es muss sein. Wir helfen dir. Das weißt du doch. Wir sprechen mit den Lehrern. Hans sagt, kein einziger von ihnen wird es wagen, nicht auf dich Rücksicht zu nehmen.«
    »Ich brauch keine Rücksicht. Ich brauch auch keine Schule.«
    »Du musst nicht weinen, Kind. Komm, setz dich wieder zu mir. Wir werden dich zu nichts zwingen, zu gar nichts. Aber was willst du denn den ganzen Tag zu Hause machen?«
    »Dasselbe wie immer. Dir im Haushalt helfen und mich um Sophie und Erwin kümmern. Und stricken lernen, wenn es wieder genug Wolle gibt. Und lesen. Lesen, so viel wie in mich reingeht.«
    »Dabei lernst du doch nichts. Ich meine, nichts Richtiges, nichts, was zu dir und deiner Familie passt.«
    »Ich hab genug gelernt«, sagte Fanny, »genug für alle Zeiten.«
    Vertrauenerweckende Erfahrungen mit dem Leben machte vorerst nur die vierjährige Sophie. Sie war sangesfroh und fantasievoll, weder trotzig noch neidisch auf den kleinen Bruder, immer zufrieden und so genügsam, wie es nur Kinder in verwüsteten Lebensräumen sind. Ihren Eltern war das

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