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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ihren Blick für junge amerikanische Soldaten, die bei ihrem Anblick wiederum vergaßen, dass es nicht ihre Aufgabe war, im Feindesland den Weihnachtsmann zu spielen. Sie hatten Befehl, das deutsche Volk zur Demokratie zu erziehen.
    »Wenn das der Führer wüsste«, sagte Hans, als seine Tochter mit einem Tütchen Popcorn nach Hause kam. »Von wem sie wohl ihre Chuzpe hat? Von mir bestimmt nicht.«
    »Von mir erst recht nicht«, wusste Anna. »Erwin hat immer gesagt, unsere Anna bekommt den Mund nur auf, wenn man ein Bonbon hineinsteckt.«
    »Wenn ich den Burschen zu fassen kriege, soll er sich warm anziehen.«
    »Ich wollt, es wär so weit, dass du ihm das persönlich sagen kannst.«
    »Ich auch«, seufzte Hans. »Ich würde mein letztes Hemd hergeben, um ihn und Clara wiederzusehen.«
    »Du hast wieder mal Claudette vergessen. Und ich wette, die hat keinen von uns vergessen. Sie ist so schweren Herzens abgefahren. Ich werde nie ihr Gesicht an diesem schrecklichen letzten Tag vergessen. Du lieber Himmel, Sophie ist schon wieder runtergelaufen. Das Kind lebt ja nur noch auf der Straße.«
    »Wir sollten dem Himmel danken, dass man das wieder kann. Ohne Angst vor Bomben und ohne Angst vor unseren Landsleuten.«
    Sophie und ihre Freundin Lena Litkowski waren dabei, letzte Hand an eine selbst gebaute Bank zu legen. Die Mädchen kannten sich erst seit einem halben Jahr; Lenas Mutter war auf der Flucht von Breslau verhungert, der Vater in Russland gefallen. Das elternlose Kind und sein Großvater wohnten seit August in der Thüringer Straße 11, zwangseingewiesen in die Wohnung im dritten Stock und vom Hauptmieter (einem fünfzigjährigen Angestellten bei den Gaswerken mit Frau, Bruder und Schwiegermutter) schikaniert wie im Krieg die »Fremdarbeiter«. Auch die übrigen Hausbewohner behandelten die Flüchtlinge so, als wären ausschließlich die Schlesier und Ostpreußen schuld an der deutschen Niederlage. Sophie war das einzige Kind, das mit Lena spielen durfte. »Gleich und gleich gesellt sich gern«, sagte Frau Schmand zu ihrem Mann. »Der feine Herr Dietz war ja immer schon Kommunist. Mein Gott, was wir uns haben gefallen lassen!«
    Im ganzen Haus waren nur die Litkowskis katholisch; ihre neuen Nachbarn beschimpften sie als »Ostzigeuner«, »Polenpack« und »Lügengesindel«. Dem Großvater sagten sie in Anwesenheit seiner Enkeltochter: »Zu Hause nicht die Butter aufs Brot haben und uns hier die letzten Krümel wegfressen.«
    Dr. Hans Litkowski, ein pensionierter siebzigjähriger Studienrat, vom Tod seiner Tochter, der wochenlangen Flucht, dem Hunger und dem grausamen Empfang in Frankfurt gezeichnet, doch nicht gebrochen, war ständig bemüht, seine Enkeltochter vor den Nachbarn zu schützen. Die kleine Lena hatte jedoch zu viel erlebt und gehört, um Menschen zu vertrauen. Unbefangen war sie nur, wenn sie mit Sophie spielte. Die neue Freundin, ein Jahr jünger als sie, doch größer, viel kräftiger und ohne Furcht, bestimmte die Spiele und bestimmte den Tagesverlauf. Sophie war es auch eingefallen, Steinbrocken vom ausgebombten Nachbarhaus vor das eigene zu schleppen und über die Steine das verkohlte Brett zu legen, das aus einem Trümmergrundstück in der Wittelsbacherallee stammte. Auf der neuen Bank besprachen die Mädchen ihre Montagsgeschäfte. »Blumenpflücken«, schlug Sophie, die Optimistin, vor.
    »Ich weiß nicht«, zweifelte Lena.
    Obwohl sie beide begriffen hatten, dass sich der Blumenhandel für Kinder nicht lohnte, zogen die Mädchen jeden Montag los. In den Trümmern wuchsen noch im Oktober hübsche gelbe Blumen, die in der Herbstsonne kräftig leuchteten und nach Frieden dufteten. Ihre Ausbeute banden die Mädchen mit Grashalmen zu kleinen Sträußen und trugen sie entweder in die Bäckerei, zum Metzger oder zum Kolonialwarenhändler. Trotz der ständigen Rückschläge hofften die Kleinen, die Geschäftsleute würden ihnen ein Stück Brot oder einen Zipfel Wurst schenken, doch bittende Kinderaugen hatten im Herbst 1945 nur bei den Siegern Konjunktur. Kein deutscher Bäcker gab ein Stück Brot für ein gelbes Blümlein her.
    Mehr geschäftliche Fortune hatte Sophies Vater. Zwar war er arbeitslos, denn ein Land, in dem so gut wie keine Zeitung gedruckt wurde, geschweige denn Bücher, hatte keine Verwendung für einen Drucker. Wie Hans zu sagen pflegte, wenn er abends zufrieden seine Schätze auf dem Küchentisch ausbreitete, war er trotzdem auf dem richtigen Dampfer. »Ich hätte«, erklärte er

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