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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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kokette Kind der täglich neue Beweis, dass für die Familie Dietz endlich die Sonne aufgegangen war. »Wann immer ich zum Fenster hinausschaue«, lächelte Hans am ersten Sonntag im Oktober, »höre ich unsere Lerche jubeln. Womit haben wir ein so zufriedenes und fröhliches Kind verdient?«
    Seine Tochter sang gerade das alte Kinderlied »Jakob hat kein Brot im Haus, Jakob macht sich gar nichts draus. Jakob hin, Jakob her, Jakob ist ein Zottelbär.« Dem Zottelbären fehlte nichts zum großen Bärenglück. Er trug ein sorgsam gebügeltes grünes Jäckchen, darunter ein weißes Hemd mit Schillerkragen und war somit wesentlich besser gekleidet als das Gros der deutschen Männer, deren Anzüge, Sakkos und Oberhemden alle aus den fetten Jahren stammten, während sie selbst ständig an Gewicht verloren: Sie sahen nicht nur verhungert aus, sondern auch verzweifelt und in ihrer Würde verletzt. Der privilegierte Bär veränderte seine Figur weder in hungrigen noch in satten Zeiten. Die vielen Nächte, die er im Luftschutzkeller verbracht hatte, hatten ihn nur seinen linken Schuh und ein – inzwischen ersetztes – Glasauge gekostet.
    Sophies verlässlicher Vertrauter saß auf der Erde, die Arme ausgestreckt und bereit, mit ganzer Bärenkraft einer leidenschaftlichen Künstlerin zu applaudieren, die ihre musikalischen Darbietungen mit tänzerischen Einlagen und Rezitationen aus ihrem Märchenbuch begleitete. Die Diva hatte feste blonde Zöpfe, zu einer Krone geflochten und mit einem breiten roten Seidenband umwickelt – das Band war eine Erinnerung an die goldene Zeit der Bonbonnieren und Kavaliere. Obgleich es zu kühl für nackte Beine war, trug Fräulein Sophie keine Strümpfe, denn sie besaß nur zwei Paar, und die mussten für den Winter geschont werden. Die Leute sagten alle, der erste Friedenswinter würde noch viel härter werden, als es der von 1944 gewesen war.
    Sophie wollte zwar jeden Abend das Märchen vom süßen Brei hören, von dem es ja so viel gab, dass selbst bettelarme Kinder keine Not zu leiden brauchten, doch Märchen aus dem Schlaraffenland waren für sie nicht das größte Kinderglück. Vielmehr verlangte es sie nach sättigenden Begegnungen mit amerikanischen Soldaten. Die jungen Sieger, von jedermann »Amis« genannt, hatten geschworen, dem ehemaligen Feind seine Vergangenheit nie zu verzeihen und sich täglich am Leid zu erfreuen, das die deutsche Zivilbevölkerung zu ertragen hatte, aber Deutschlands Kindern konnten sie nicht widerstehen. Wann immer sie auf sorgsam gekämmte Buben in Lederhosen trafen und auf die kleinen Mädchen mit den Gretchenzöpfen, bewarfen sie lachend die soeben erst besiegte Feindesbrut mit Kaugummi, Schokoladenriegeln, Keksen und dicken, mit Käse oder Schinken belegten Weißbrotschnitten.
    Zum ersten Mal in ihrem Leben biss Sophie Dietz in eine Banane. Sie war eine geschickte Fängerin. Wenn Orangen und die heiß begehrten Bonbons mit einem Loch in der Mitte flogen, stand sie in vorderster Reihe. In ihrem roten Rock und schwarzer Weste sah Fräulein Sophie wie Rotkäppchen aus – ihre furchtlose Mutter hatte das Kleid noch vor dem letzten Atemzug des Tausendjährigen Reichs aus einer vom Ehepaar Schmand auf dem Speicher versteckten Hakenkreuzfahne geschneidert. Einmal fing Sophie sogar ein Glas mit Erdnussbutter auf. Weil sie die Beute nicht öffnen konnte, trug sie das Glas nach Hause, doch die Mutter war ebenso ratlos wie die fixe Tochter. »Mein Gott, ausgerechnet Bohnerwachs«, bedauerte Anna.
    Drei noch unerfüllte Wünsche waren es, die Sophie beschäftigten. Sie bat Gott, er möge ihrem Vater ein zweites Bein wachsen lassen und ihren kleinen Bruder in ein Reh verwandeln. »Erwin weint zu viel«, beschwerte sich die Bittstellerin, »und er will immer von meinem Teller essen.« Zu Weihnachten wollte sie heiraten. »In einem weißen Panzer«, träumte sie bei Brotsuppe mit Graupenwurst. Ihr Bräutigam sollte die ganze Welt mit den süßen Kringeln versorgen, die die Amis »Donuts« nannten, und er sollte von schwarzer Hautfarbe sein. »Die Neger«, klärte Sophie ihre verblüfften Eltern auf, »schenken den Kindern viel mehr Schokolade und Cookies als die weißen Soldaten.« Bereits zwei Wochen nach dem Einmarsch der Amerikaner in Frankfurt hatte das aufmerksame Kind das amerikanische Wort für Kekse gelernt. Während der Wehrmachtsbericht noch von deutscher Ehre und der Opferbereitschaft an der Heimatfront sprach, schulte die kleine Sophie aus Frankfurt bereits

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