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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Schmerz, der ihr die Luft nahm, waren real. Die Versuchung war groß, Fanny von ihrer Mutter, von ihrer Magie und ihren Bühnenträumen zu erzählen, doch sobald Anna ihre schöne kapriziöse Schwester erblickte, sah sie Victoria mit dem kleinen Salo an der Hand zur Großmarkthalle gehen.
    Fanny bemerkte die Tränen in Annas Augen. »Ich will ja hingehen«, stammelte sie, »Hans hat sich so viel Mühe gegeben. Ich zieh am besten meinen blauen Rock an. Mit der weißen Bluse. Es macht doch nichts, dass sie mir zu weit ist. Mich kennt ja keiner.«
    »So siehst du aus«, polterte Hans. »Meine Tochter geht nicht in einer zu weiten Bluse ins Theater. Dort sitzen lauter feine Leute.«
    Aus dem himmelblauen Stoff, für den sie ihre Perlmuttknöpfe hergegeben hatte, nähte Anna ein langärmeliges, eng ansitzendes Kleid, wie es einst Claudette in die Tanzstunde getragen hatte. Der Stoff reichte für einen Gürtel, für kleine Rüschen um Kragen und Manschetten und schließlich für ein breites Haarband. Fanny mit dem schwingenden Rock und dem blauen Band, das ihr rötlich schimmerndes Haar zum Leuchten brachte, mit glühenden Wangen und ihren grünen Katzenaugen entzückte die ganze Familie. Sie selbst begegnete im Spiegel einem jungen Mädchen, das für einen berauschenden, nie mehr zu vergessenden Moment eine Ahnung von Jugend und Lebensfreude hatte.
    Hans, Anna, der kleine Erwin im Bollerwagen, Sophie und auch Lena brachten Fanny mit der Briketttüte zum Börsensaal, und ein jeder verabschiedete sich von ihr, als wäre die Trennung eine auf Lebenszeit. Fanny, zum ersten Mal allein unter Fremden, blieb ruhig. Sie fand sowohl den Mann, der vom Publikum die Kohlen entgegennahm, als auch ihren Platz. Eine ältere Frau mit Lorgnon um den Hals und einem kleinen bestickten Beutel, der von ihrer Rechten baumelte, lächelte Fanny an. Sie lächelte zurück und setzte sich vorsichtig auf ihren Stuhl.
    Die feinen Leute, von denen Hans gesprochen hatte, waren des Novemberwetters wegen und weil der Saal nicht geheizt war, in dicke Pullover, Schals und Decken gehüllt; Fanny schaute die Frau an, die neben ihr saß: eine betagte weißhaarige Dame in einem schwarzen Kostüm, das unverkennbar aus einer Militäruniform geschneidert und umgefärbt worden war. Im lauten Ton der Schwerhörigen unterhielt sie sich mit Fannys Nachbarin zur Linken – eine ebenso alte Frau in einem abgewetzten grauen Mantel, klein, zerbrechlich und auffallend blass. Ihre lebhaften Augen passten nicht zu ihrem eingefallenen Gesicht. Über Fannys Kopf hinweg redeten die beiden Frauen von Blähungen und Rübensuppe. »Der alte Ganeff hat wieder mal die Fleischzuteilung für uns alle an sich gerissen«, klagte die Dame im schwarzen Kostüm. Sie brüllte so laut, dass ein Mann in der Reihe vor ihr sich die Ohren zuhielt. Die kleine Blasse bemerkte sein Missfallen, stand schwerfällig auf, schlug Fanny grob auf die Schulter und befahl: »Wir tauschen den Platz.«
    »Aber mein Vater hat doch diese Karte extra für mich besorgt.«
    »Du nimmst keinen Schaden, wenn du einer alten Frau einen Gefallen tust. Hat dir das deine Mutter nicht beigebracht?«
    »So sind sie«, monierte die Frau im schwarzen Kostüm, als Fanny aufstand, feuerrot im Gesicht. »Brauchen immer einen Befehl. Bis sie ins Alter kommen, Befehle zu geben.«
    »Ärgern Sie sich nicht, meine Liebe. Das Mädel hat’s bestimmt nicht so gemeint. Alles ein Missverständnis, würde unsere Frau Sternberg sagen. Das sagt sie immer. Doch die ist ja auch eine Seele von Mensch. Es ist ein Jammer, dass ausgerechnet so eine nicht von ihren fixen Ideen abzubringen ist. Obwohl sie ihre ganze Familie im Lager verloren hat, erzählt sie mir dauernd, dass sie eine Tochter in Frankfurt hat.«
    Es war, als die Frau im grauen Mantel das sagte, der Moment, da der Vorhang hochging. Die beglückten Zuschauer klatschten wie Kinder. Sie lachten, riefen »Hurra!«, winkten zur Bühne hin, sprangen von ihren Sitzen hoch und jubelten im Chor »Frankfurt soll lewe«. Jedoch das Mädchen mit dem blauen Band im Haar und mit dem Gedächtnis, das so gnadenlos war wie die Menschen, die es vier Jahre zuvor aus seiner Heimatstadt geprügelt hatten, saß steif und fröstelnd auf seinem Stuhl. Was auf der Bühne geschah, nahm Fanny nur durch einen Schleier von Entsetzen wahr. Worte explodierten in ihrem Kopf. Immer wieder hörte sie eine Peitsche knallen und danach Satans nie vergessene Stimme. Obwohl sie sicher war, dass sie ihm diesmal nicht

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