Heimkehr in Die Rothschildallee
entkommen würde, faltete sie ihre Hände und bat Gott, er möge ihr die Kraft und den Mut geben, eine Fremde anzusprechen. »Nur dieses eine Mal«, flüsterte Fanny.
In der Pause erzählte die Frau im schwarzen Kostüm, sie wäre früher in Berlin viel ins Theater gegangen. »Ich hab die Bergner in jeder Rolle gesehen«, sagte sie, »das hat es nirgendwo sonst gegeben.«
»In Breslau«, widersprach ihre Freundin, »brauchte sich das Theater auch nicht zu verstecken. Gerhart Hauptmann war oft da. Wir hatten immer Logenplätze.«
Fanny starrte ihre Hände an. Sie wusste, dass sie verloren war, wenn sie ihrer Angst nachgab, und dass es ihre Pflicht war, nicht die Hoffnung auf Wunder aufzugeben. So kam es, dass Fanny Feuereisen, die den Tag ihrer Rettung nie vergessen hatte, die Frau im grauen Mantel am Ärmel zupfte. »Bitte«, fragte sie, »können Sie mir die Adresse von Frau Sternberg sagen? Ich glaube, sie kennt mich.«
5
WUNDER GIBT ES DOCH
November 1945
Vom ersten Theaterbesuch ihres Lebens war Fanny stotternd und mit einer auffälligen lila Beschriftung auf ihrem linken Unterarm nach Hause gekommen. Wichtiges auf der Handfläche, dem Arm oder auf dem Oberschenkel zu notieren war üblich geworden in einer Zeit, in der Papier ebenso knapp war wie Brot. Mit einem angefeuchteten Kopierstift, einer Leihgabe ihrer Sitznachbarin im grauen Mantel, die sich im entscheidenden Moment unerwartet hilfsbereit gezeigt hatte, hatte Fanny die Adresse »Magerstraße« geschrieben.
Sie war außer sich, als sie erfuhr, dass es in Frankfurt keine Magerstraße gab.
»Weder früher noch unter Hitler und bestimmt jetzt auch nicht«, erklärte ihr Hans.
»Aber ich hab doch genau gehört, was die Frau gesagt hat. Sie hat ja so laut gebrüllt, dass ich mir total blöd vorkam. Die Leute haben uns wütend angeschaut. Ich dachte schon, gleich gehen sie auf uns los.«
»Da haben wir den Salat. Ich sag ja immer, dass grundsätzlich nur Quark herauskommt, wenn einer schreit. Siehe unseren verblichenen Führer. Musst nicht gleich weinen, Fanny. Wirklich nicht. Noch ist Polen nicht verloren. Schließlich heißt es ja auch, kein Rauch ohne Feuer. Wir werden sehen, ob wir vielleicht in Höchst eine Magerstraße finden, aber ich sag dir gleich, da musst du Geduld haben. Bei den heutigen Verkehrsverhältnissen liegt Höchst hinter dem Mond.«
»Andererseits ist der Name Sternberg nicht gerade häufig«, wandte Anna ein, »und den hat Fanny ja genau gehört. Schon früher habe ich keine Sternbergs außer uns gekannt. Und die Verwandtschaft aus Oberhessen natürlich. Doch keine einzige der jüdischen Kundinnen in der Posamenterie hieß Sternberg. Ich sehe die Kundenkartei deutlich vor mir. Die Schrift von unserem Lehrbub war wie gestochen. Auf Steinberg folgte Sternheim. Friederike Sternheim. Sie kaufte bei jedem Besuch Bordüren und Samtband.«
»An was du dich alles erinnerst. Das muss doch wehtun.«
»Tut es.«
»Ich bin froh, dass mein Gedächtnis Mitleid mit mir hat.«
»Vielleicht hat meines auch eines Tages ein Einsehen.«
Obwohl Anna nicht an glückliche Zufälle und bedeutsame Omen glaubte, kam sie nicht von der Vorstellung los, Fannys Erlebnis im Theater und ihre atypische Reaktion auf das Geschehene könnten »vielleicht irgendein Fingerzeig sein. Wenn ich nur wüsste, in welche Richtung«, rätselte sie im stockdunklen Schlafzimmer. Es war zehn Uhr abends, die Stromsperre hatte gerade eingesetzt, und die Kerze für Notfälle war nur noch ein Stummel. »Fanny hat sich doch immer lieber die Zunge abgebissen, als fremde Menschen anzusprechen. Wir können nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen.«
»Nein, das können wir nicht, aber wir dürfen ihr auch nicht irgendwelche Hoffnungen machen. Wenn die Frau tatsächlich Sternberg gesagt hat, hat es sich bestimmt nicht um Fannys Mutter gehandelt. Victoria hätte uns gesucht.«
»Wenn ich nur die geringste Idee hätte, was wir tun sollen, wäre mir wohler. Ich komme mir so hilflos vor.«
Und doch war es Anna, die bereits am nächsten Morgen die Spur witterte – die entscheidende. Damit die Kohle möglichst lange die Glut hielt, war sie gerade dabei, die Briketts für den Tag in das feuchte Zeitungspapier einzuwickeln, das Hans regelmäßig von seinen Touren nach Hause brachte. Ein Brikett steckte schon im Ofen, eingepackt in die erste Ausgabe der »Frankfurter Rundschau«; sie war im August herausgekommen – mit einem Bericht der englischen Unterhauswahlen. Die Zeile
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