Heimkehr in Die Rothschildallee
Stock stand eine junge Frau am Fenster und schwenkte eine goldfarbene Glocke. »Frau Sternberg, Mittagessen«, rief sie, »haben Sie denn heute gar keinen Hunger?«
Betsy machte keine Bewegung. Auch weinte sie nicht, denn sie scheute sich, der einzigen Gnade, die ihr je widerfahren war, Tränen zuzumuten. Ihr Herz raste sich jung, ihre Hände waren so warm wie lange nicht mehr, als sie Anna an sich drückte. »Du bist«, sagte sie, und für Anna klang es, als würde sie singen, »das Beste, das mir in meiner Ehe je widerfahren ist. Ich hätte es Johann Isidor beizeiten sagen sollen. Komm, Fanny, setz dich. Ich muss dich fühlen, um zu begreifen, was geschehen ist. Obwohl ich nicht geglaubt habe, dass wir uns je wiedersehen, hat nur der Gedanke an dich mich am Leben gehalten.«
6
BEGEGNUNG AN DER HAUSTÜR
November 1945
Betsy war es immer wichtig gewesen, weder ihrem Temperament nachzugeben noch dem ersten Impuls. Schon als Kind hatte es sie nicht in den Mittelpunkt gedrängt – trotz der Konkurrenz ihrer vielen Geschwister um die Aufmerksamkeit des geliebten Vaters. »Wer im Schatten steht, den blendet die Sonne nicht« wurde später ihr Lebensmotto. Ihren kapriziösen Töchtern, die es immerzu nach Glanz und Bewunderung gelüstete, predigte sie, wenn auch selten mit Erfolg, Bescheidenheit, Rücksicht und Diskretion. Forsches Auftreten und wichtigtuerisches Gehabe billigte sie ausschließlich Männern zu, eitle Menschen machten sie nervös, Egozentriker waren ihr zuwider. Selbst in guten Zeiten hatte sie spontan geschlossenen Freundschaften misstraut; nach der Rückkehr aus Theresienstadt mochte sie sich gar nicht mehr auf Fremde einlassen. Berichte von Schicksalsgenossen, die wie sie im Konzentrationslager gewesen waren und ihre Familie überlebt hatten, konnte sie nicht ertragen, aber auch banales Geplauder quälte sie.
Die angesehene Madam Sternberg, Gattin eines Mannes von Vermögen und Reputation, war nie klatschsüchtig gewesen, auch nicht neugierig. Im Altersheim kam ihr also gar nicht die Idee, irgendeiner würde sich mit ihr beschäftigen. »Ich fühl mich hier so wohl, weil keiner von mir Notiz nimmt«, erklärte sie Anna. »Ich nehme an, wir alle haben im Lager verlernt, uns für andere Menschen zu interessieren.«
So gründlich hatte sich Betsy selten geirrt. Sie wurde ständig beobachtet. Besonders von den Frauen. Die waren sich einig, »dass die Sternberg doch beneidenswert frisch für ihre dreiundsiebzig wirkt«. Man rätselte, ob die »Dame wohl von einem geheimen Gönner Extrazuteilungen oder stärkende Medikamente kriegt oder ob sie irgendwelche Kontakte zu den Amerikanern hat«. Frau Olschowsky, eine Putzmacherin aus Wiesbaden, die drei Jahre lang von ihrer nichtjüdischen Freundin in einem Bodenverschlag versteckt worden war und die in dieser Zeit nur mit ihrer Lebensretterin hatte reden können, drückte es trotz ihrer Sprachstörungen am deutlichsten aus: »Sie sieht aus wie früher die reichen Leute, wenn sie aus der Sommerfrische kamen. Dabei hat sie doch angeblich todkrank vier Monate lang in einem deutschen Krankenhaus gelegen.«
Dr. Goldschmidt, der die Heiminsassen medizinisch betreute und jeden Mittwoch Sprechstunde hielt, schien ähnlich zu denken. Als er Betsy das erste Mal untersuchte, sagte er: »Wenn Sie so weitermachen wie bisher, Frau Sternberg, überleben Sie uns noch alle.« Betsys Reaktion auf die außergewöhnliche Diagnose, zufällig von der alten Frau Friesländer miterlebt und mit erhobener Hand bezeugt, wurde Tagesgespräch. Sie hatte dem Arzt, der gerade ihre Pulsschläge zählte und der nicht dazu neigte, seine Worte mit Bedacht zu wählen, verärgert die Hand entzogen und ihn schroff belehrt: »In Theresienstadt habe ich ein für alle Mal gelernt, dass es beim Überleben weder auf die Konstitution noch auf den eigenen Willen ankommt, Herr Doktor.«
Unmittelbar nach dieser Begebenheit entflammte ein für die Zeit typischer Tauschhandel die Fantasie der Menschen im jüdischen Altersheim. Das Geschäft (»äußerst seltsam, wenn Sie mich fragen«) führte zu einer Flut von Gerüchten. Die zahlenmäßig kleine, doch sehr aktive Gruppe der in Frankfurt stationierten jüdischen Soldaten hatte zum bevorstehenden Chanukkafest im Dezember jedem Heiminsassen eine Dose koschere Wurst, ein Pfund Kaffee und ein hebräisch-englisches Gebetbuch gestiftet. Zwei Tage später überließ Betsy ihre Salami Herrn Mahlke, »von dem selbst die Schafe hier wissen, dass koschere Wurst
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