Heimkehr in Die Rothschildallee
Birnbaum, in Frankfurt geboren und trotz der dort erlebten Pein noch immer in der gemütvollen Sprache seiner Heimatstadt zu Hause, dreiundachtzig Jahre alt und ehedem erfolgreicher Immobilienmakler, gab bereitwillig Auskunft über seine Vaterstadt. »Die Sternbergs«, erinnerte er sich, »hatten drei Geschäfte. Eins größer als das andere. Richtige Goldgruben waren das. Dem Johann Isidor Sternberg von der Posamenterie in der Hasengasse und mit dem Weißwarengeschäft auf der Glauburgstraße hat keiner was vormachen können. Meine Frau, die nie ganz zufrieden war mit dem, was sie hatte, hat ihn mir immer vorgehalten. ›Der Sternberg hat Ellbogen‹, hat sie gesagt, ›und den richtigen Riecher fürs Geschäft.‹ Und die richtigen Freunde. Wir hatten denselben Arzt, er und ich. Dr. Meyerbeer, hieß er. Er war ein ganz feiner Kerl und klüger als wir alle zusammen. Er hatte die Courage, sich umzubringen, als er den Deportationsbefehl erhielt. Seine Frau auch. Ich hab im Lager oft mit Sternberg über Meyerbeer und seine Frau gesprochen. Was haben wir die beiden beneidet. ›Gott belohnt die Mutigen‹, hat Sternberg gesagt, ›ich hab zugelassen, dass meine Frau das Gift ins Klo geworfen hat.‹«
Dass Betsy Familie in Frankfurt hatte, obwohl es doch hieß, sie hätte »ihre ganze Familie in Theresienstadt verloren«, wurde zum Dauerthema. »Nanu, so plötzlich?«, fragte Herr Weisshaupt ironisch, als er von Anna und Fanny erfuhr. Frau Olschowsky sagte gar: »Chuzpe.« – »Kommen einfach hier vorbei und setzen sich bei uns auf die Bank«, fasste Frau Simon das Wunder in Worte. Gusti Bielmann, ursprünglich in Kassel zu Hause, wo ihr früh verstorbener Ehemann zwei Mietshäuser und einen Laden für feine Aussteuer besessen hatte, lieferte mit ihrer berüchtigten spitzen Zunge den spontanen Beweis, dass das Sprichwort der Neider sowohl gute als auch schlechte Zeit überdauert. »Wo was ist, kommt was dazu«, zog die Lästerin Bilanz. Auch Alfred Grün, wahrlich nicht als zungenflink bekannt und schon gar nicht als vulgär, wusste: »Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.« Frau Schotten fragte: »Wieso hat die gute Frau Sternberg überhaupt noch eine Tochter und Enkelkinder? Wenn Sie mich fragen, kann das nicht mit rechten Dingen zugehen. Wo kommt die Mischpoche plötzlich her? Ist die Tochter mit dem gelben Stern auf dem Mantel durch Frankfurt spaziert, und haben ihr die Leute freundlich auf die Schulter geklopft und ihr Platz auf den Bänken mit den Schildern ›Für Juden verboten‹ gemacht?«
Trotz der Lawine von Klatsch, trotz Neid und Verwunderung freuten sich die Menschen in der Gagernstraße an Annas Besuchen – auch jene, die von Betsy nicht mehr wussten, als dass »die Glückliche in Theresienstadt die ganze Zeit im Kinderhaus gearbeitet hat«. Anna kam jeden zweiten Nachmittag, immer mit Erwin im Bollerwagen und meistens mit Sophie, die unterwegs Zweige für den Küchenherd sammelte. Oft war Lena dabei, die schüchterne Freundin aus Breslau. Gewöhnlich redete Lena ja nicht mit Fremden, im Garten des Altersheims erzählte sie jedoch bereits bei ihrem zweiten Besuch einem Mann mit Augenklappe und Holzkrücken, dass ihre Mutter auf der Flucht aus dem Osten verhungert war. »Mein Opa«, berichtete das Kind, »sagt, dass sie ein ganz heller Stern ist. Er kennt den lieben Gott.« Der Mann, der dies erfuhr, weinte mit dem einen Auge, das ihm nicht ausgeschlagen worden war. Er war einst Gymnasiallehrer für Geschichte gewesen und hatte bei der Befreiung aus Dachau geschworen, sich an jedem Leid zu erfreuen, das ein Deutscher erlitten hatte.
Trotz Novemberregen und der frühen Kälte, die den Winter des Grauens ankündigte, spielten die Kinder im Garten. Von den Männern wurden die Kleinen mit nachdenklichen, melancholischen Blicken beobachtet, von den meisten Frauen seufzend an die ausgemergelten Körper gedrückt, geherzt, geküsst und mit altmodischen Koseworten bedacht, die sie nicht verstanden. Sophie und selbst Lena ließen die Liebe der Alten bereitwillig zu, denn den Küssen und geflüsterten Beschwörungen pflegten häufig ein Bonbon, ein harter Keks oder ein Stück getrockneter Apfel zu folgen.
Liebling der beiden Mädchen war eine humpelnde, schwarz gekleidete Frau. Sie war nicht größer als ein zwölfjähriges Mädchen, hatte einen winzigen Kopf, wirr abstehendes graues Haar, von dunklen Ringen umschattete schwarze Augen und einen gelblichen Teint; Sophie hatte die Greisin trotz
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