Heimkehr in Die Rothschildallee
zu ihm so gut passt wie Schweinefleisch zu einem Rabbiner«.
Von Siegesmund Mahlke, einem grauköpfigen, nervösen Oberstudienrat ohne Anstellung, wurde gemunkelt, er sei als Parteigenosse der ersten Stunde aus dem hessischen Schuldienst geflogen. Zuständig war Mahlke für die Buchführung im Heim und für Verhandlungen mit Ämtern. Ob Parteigenosse oder ein zu Unrecht Verdächtigter, er stimmte spontan Betsys Vorschlag zu, sich von Stefan Zweigs Essaysammlung »Sternstunden der Menschheit« zu trennen. Weil die »Sternstunden« eine Erstausgabe und somit wertvoll waren, hatte Mahlke trotz seiner Führertreue und trotz starker Gewissensbisse das berühmte Buch der Bücherverbrennung vom Mai 1933 entzogen. Von dem Schatz in seinem Keller hatte er Betsy nur deswegen erzählt, weil sie ihn stets grüßte – im Gegensatz zu anderen Heimbewohnern. Als er einmal stark erkältet gewesen war, hatte sie ihm auch gute Besserung gewünscht.
»Ich hab doch so viel nachzuholen, ich muss so viel zurückholen«, soll Betsy »sehr verlegen« gemurmelt haben. Frau Simon war (»ganz ohne Absicht, das können Sie mir glauben!«) Zeugin des verblüffenden Tausches geworden. Keiner konnte es fassen: Eine Frau, die den tödlichen Hunger von Theresienstadt erlebt und selbst vierzig Pfund abgenommen hatte, gab Wurst für ein Buch her. »Noch dazu ein ganz dünnes«, berichtete Frau Simon. »Hüten wir uns vor den Gebildeten! Das hat mein seliger Mann schon immer gesagt.«
Obwohl ihr Mann und ihre beiden Töchter mit je zwei kleinen Kindern umgekommen waren, hatte sich Henny Simon sowohl ihren scharfen Blick für Nebensächlichkeiten als auch die Lust am Fabulieren bewahrt. Sie wusste als Erste, dass »die Sternberg’sche Professorin für Literatur an der Frankfurter Universität gewesen war. Ganz hoch angesehen, habe ich gehört. Ihr sollen sogar zwei Dienstzimmer zur Verfügung gestanden haben. Mit seidenen Vorhängen.«
Zwei Tage später berichtete Frau Simons Zimmernachbarin Frau Feigenbaum, die ihrer Schwerhörigkeit wegen zu Verwechslungen der schwerwiegendsten Art neigte, man hätte Betsy ihre alte Position wieder angeboten, sie habe aber mit der Begründung abgelehnt, sie hätte nur ein einziges Paar Schuhe, und das mit durchgelaufenen Sohlen. Die Einschätzung von Betsys Schuhsituation stimmte: Sie hatte zu große Füße, um von einer Aktion profitieren zu können, in der Schuhwerk unbekannter Herkunft in der Gagernstraße verteilt worden war.
Auch die Männer im Heim wussten Erstaunliches von der »meschuggenen Sternberg mit dem Lesetick«. Sie hätte »trotz Hitler und der Arisierung immer noch genug Grundbesitz in Frankfurt, um das ganze Altersheim aufzukaufen«. Als Betsy dann beim Sabbatessen zwischen der Suppe aus ausgekochten Rinderknochen und den Graupen mit scharf gerösteten Kohlstreifen erwähnte, sie hätte früher in der Rothschildallee gewohnt und sie wolle so schnell wie möglich einmal dorthin, um nachzusehen, »ob unser altes Haus überhaupt noch steht«, kam umgehend ein Gerücht auf, das keinen ihrer Schicksalsgenossen unbewegt ließ. Frau Sternberg sei eine geborene Rothschild, hieß es, und hätte Verwandte in aller Welt.
»Selbst in Venedig«, wusste Frau Feigenbaum. Sie hatte Tränen in den Augen, und ihre Schultern bebten. »Wir waren 1929 zu unserer silbernen Hochzeit dort. Auf dem berühmten Kanal sind wir gefahren. Im Mai und bei Mondschein und mit Gesang. Mein Mann hat noch an unserem letzten Abend davon gesprochen, obwohl er da kaum noch atmen konnte.«
Menschen, die erlebt hatten, wie die Ehepartner, ihre Kinder und Geschwister, die Enkel und die greisen Eltern verhungert waren oder dass sie wie Schlachtvieh in die Züge in den Osten verladen wurden, stellten sich immer wieder die eine qualvolle Frage: Warum waren ausgerechnet sie verschont geblieben? Die Verzweifelten, deren Los das Leben war, litten an Schuldgefühlen, die sie nie verließen, und sie litten an einer Einsamkeit, wie sie vor der Zeit in den Konzentrationslagern noch nicht einmal vorstellbar gewesen war. Dennoch verlangte es diese Leidenden und Verzagten, im Gegensatz zu Betsys Annahme, noch immer nach dem Leben der anderen. Verwandte im Ausland zu haben, das bewegte einen jeden. Verwandtschaft bedeutete den Halt und den Funken Hoffnung, den der ins Leben Zurückgestoßene brauchte, um sich nicht aufzugeben. Nur die eigenen Leute wussten, wer man gewesen war; sie waren die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart.
Isaac
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