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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Hexenbuckel und verkrüppelter Hände spontan als die dreizehnte Fee ausgemacht, die einst an Dornröschens Wiege ein schlimmes Schicksal abgewehrt hatte. Die Fee mit dem Buckel trug den Kindern warmen Pfefferminztee in den Garten, mit so viel Sacharin gesüßt, wie nötig war, damit sie glaubten, sie wären mit Honig und Kandiszucker gelabt worden. Die kinderbesessene Wohltäterin schenkte ihren Zaubertrunk aus einer hohen silbernen Kanne ein. »Die Kanne«, erzählte sie, » habe ich unter einem Rosenbusch gefunden. Am Röderbergweg. Der dicke Göring hat sie dort versteckt. Ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen. Jetzt sitzt er bei den Amerikanern im Gefängnis, der Mistbock. Pfefferminztee kriegt er dort bestimmt nicht.«
    Die silberne Kanne reizte auch Betsy; wenn sie die Frau den Tee ausschenken sah, erinnerte sie sich an die sonntäglichen Kaffeenachmittage im Wintergarten der Rothschildallee; anders als sie befürchtet hatte, taten ihr die Bilder wohl. An einem Sonntagmorgen erzählte sie der Frau von den gelben Begonien auf dem Fensterbrett und vom bemalten Tontopf mit den Tränenden Herzen, die Victoria gehätschelt hatte. »Sie hat sie immer Zauberblumen genannt«, fiel ihr ein. Noch während sie sprach, sah Betsy die sechsjährige Vicky in einem blauen Samtkleid mit Spitzenkragen auf dem Balkon stehen. Betsy schaute zu lange hin, sie wurde blind und stumm. Die Frau mit der Silberkanne weinte mit ihr.
    Nachmittags erzählte Betsy ihrer wiedergefundenen Tochter: »Es ist kaum eine dabei, die im KZ nicht Kinder und Enkelkinder verloren hat. Immer wieder nennen sie die Zahl. Als wäre nicht ein ermordetes Kind schon entsetzlich genug. Und ich sitze hier und kann nicht begreifen, dass du Fanny gerettet hast. Für den Rest meines Lebens werde ich mit Gott hadern, dass dein Vater es nicht erfahren hat. Er hat dich so sehr geliebt und war so stolz auf dich.«
    Beim nächsten Besuch vertraute sie Anna an, was mit Salo geschehen war. »Vicky hielt das Kind die ganze Zeit an der Hand. Das hab ich noch gesehen, doch sie muss Salo in dem Moment losgelassen haben, als sie in den Zug gedrängt wurde. Ich hab ihn schreien hören, nein wimmern. Eine ganz schwache dünne Stimme hatte er. Ich höre sie immer noch und werde sie mein Lebtag nicht vergessen. Die weinenden Kinder waren grausamer als alles andere. Er war ohne Kraft, unser Salo, ohne Leben. Johann Isidor war noch dabei, aber auch er war schon tot, obwohl sie ihn erst vier Wochen danach geholt haben. Was rede ich denn da? Wie ein Waschweib. Ich hab mir geschworen, nie mit jemand, der nicht dabei war, von Theresienstadt zu sprechen. Ich bin eine abscheuliche Person geworden.«
    »Ich bin nicht jemand«, schluckte Anna, »ich bin deine Tochter.«
    »Das bist du wahrhaftig. Gott schütze die Ehebrecher.«
    Sie lachten beide, als Betsy das sagte. Es war das erste Mal, dass sie gemeinsam lachten, seitdem sie einander wiedergefunden hatten; später lachten sie wieder, denn Betsy beschrieb – so genau, als wäre dies am Tag zuvor geschehen –, wie Johann Isidor vor ihr gestanden hatte, verlegen, aber aufrecht, die achtjährige verschüchterte Anna an der Hand, im gleichen Kleid, das der Vater auch Victoria aus Paris mitgebracht hatte. »Mehr brauchte ich nicht zu sehen«, erinnerte sich Betsy. »Auch wenn er die Ehe gebrochen hat, wie man damals zu sagen pflegte, war er ein guter Ehemann. Nur als Lügner hat er nicht viel getaugt.«
    »Aber als Vater«, sagte Anna.
    Betsy schaute in den Garten. Bäume, Schafe und Bänke waren vom Nebel eingehüllt. Trotzdem presste sie ihr Gesicht an die Fensterscheibe. Ihr war es wichtig, dass Anna ihre Augen nicht sah, wenn die Vergangenheit auf sie einschlug. »Ich fürchte«, sagte sie schließlich, »ich hab mich nicht verändert. Kein bisschen. Ich stelle immer noch Fragen, die zu nichts führen. Meinst du, dass Fanny irgendwann nach ihrer Mutter fragen wird? Oder nach ihrem Vater und Salo? Ich hab schon gedacht, ich muss die Initiative ergreifen. Doch woher soll ich wissen, was ich ihr zumuten darf? Bis jetzt bin ich nicht einmal dahintergekommen, ob sie noch ein Kind ist oder nicht. Wie erklärt man einem Kind ein KZ?«
    »Sie ist kein Kind, Betsy, aber sehr unsicher und ängstlich. Die Zeit hat ihr nicht gutgetan, in der sie noch nicht mal bis zum Briefkasten gehen durfte und wir bei jedem Geräusch zusammengezuckt sind und auf den Schlag gewartet haben. Sie hat von Anfang an alles mitbekommen. Sie fürchtet sich immer noch vor

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