Heimkehr in Die Rothschildallee
Fremden. Deswegen will sie ja auch nicht in die Schule gehen.«
»Wem tut das schon gut, als Maulwurf zu leben? Vielleicht kann ich ihr am eigenen Beispiel begreiflich machen, dass Überleben Verpflichtung bedeutet. Vielleicht könnte ich ihr vorschlagen, mich in die Rothschildallee zu begleiten? Ich muss das Haus sehen, jetzt, wo ich euch wiederhabe, mehr denn je. Und ich möchte Fanny dabeihaben. Ich brauche sie. Du siehst, sie haben es geschafft, Anna. Aus der couragierten Frau Sternberg, die Angst für eine Charakterschwäche hielt und ihren Sohn in den Krieg ziehen ließ, ohne sich eine einzige Träne zu gestatten, ist eine Maus geworden, nein, ein Mäuschen. Ich brauche ständig einen Arm, an dem ich mich festhalten kann. Und ein Taschentuch. Und jemand, der mir sagt, was ich tun und was ich lassen soll und wer ich bin. Am liebsten würde ich schon zum Frühstück Baldrian trinken, nur den bekommt man ja nirgends.«
»Du bist mutiger als wir alle, Betsy.«
»Ich habe geschehen lassen, Anna. Dazu braucht man keinen Mut. Du hast gehandelt. Das ist ein Riesenunterschied.«
Am Dienstag, den 20. November, morgens um neun – es war der Tag vor dem Buß- und Bettag – machte sich Betsy Sternberg mit ihrer Enkeltochter zu dem Haus auf, in das sie vor fünfundvierzig Jahren mit ihrem Mann und ihrem ältesten Sohn eingezogen war. »Vier Kinder hab ich dort zur Welt gebracht.«
»Ich denk, es waren fünf. Otto, Erwin, Clara«, zählte Fanny an ihren Fingern ab, »Victoria und Alice.« Sie sprach den Namen ihrer Mutter leise aus, ihre Augenlider flatterten, doch Betsy gab vor, sie hätte nichts gemerkt.
»Otto war schon da. Er wurde noch im Sandweg geboren und war vier Jahre alt, als wir dort weg sind. An Kaisers Geburtstag haben wir das erste Mal in der Rothschildallee gefrühstückt. Der Himmel war so blau wie seitdem nie mehr. Die Sonne strahlte. Richtiges Kaiserwetter.«
»Deutschland hat mal einen Kaiser gehabt?«, staunte Fanny. »Ich dachte, es gab immer nur den Hitler.«
»Der war nur zwölf Jahre da«, erklärte ihr Betsy, »aber die Hölle hat ihre eigene Zeitrechnung. Für uns war es eine Ewigkeit. Die wird nie vorbei sein.«
Der 20. November war, was Betsy allerdings erst am Abend erfuhr, als sie mit Hans und Anna am Radio saß, für Deutschland ein bedeutender Tag. Vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg begann der Prozess gegen einundzwanzig führende Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes. Unter ihnen waren der ehemalige Reichsmarschall und Luftfahrtminister Hermann Göring, Julius Streicher, bei den Nazis Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes »Der Stürmer«, Rudolf Hess, der Stellvertreter Hitlers, und Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der ehemalige Chef des Oberkommandos der Wehrmacht.
Die Vergangenheit stand an diesem Dienstag auch in Lüneburg vor Gericht. Der ehemalige Kommandant des KZ Bergen-Belsen, Josef Kramer, und zehn weitere Angeklagte wurden von einem britischen Militärtribunal zum Tode verurteilt. Ebenfalls am 20. November 1945 veröffentlichte die amerikanische Militärregierung in Frankfurt eine Liste, auf der über tausend Namen bekannter deutscher Persönlichkeiten aufgeführt wurden; das Dokument war als Grundlage für die im Kulturbereich zu beschäftigenden Personen vorgesehen. Als ehemalige Sympathisanten der Nazis aufgeführt und nun mit Berufsverbot belegt waren unter anderem Wilhelm Furtwängler, der Dirigent der Berliner Philharmoniker, der Pianist Walter Gieseking, der Schauspieler Emil Jannings und der Schriftsteller Ernst Jünger.
»Wetten, dass du nach so langer Zeit nicht mehr ohne mich in die Rothschildallee finden würdest«, neckte Betsy.
»Verloren. Ich hab mir als Kind die Strecke sogar aufgemalt. Auch die ins Philanthropin, wo ich zur Schule gegangen bin, und zur Günthersburgallee, wo meine Eltern gewohnt haben. Ich hab immer Angst gehabt, ich könnte vergessen, wer ich bin.«
»Gott schütze dich, Fanny. Wenn ich eine jüdische Großmutter wäre, wie meine eine war, würde ich dich segnen. Aber ich weiß nicht, wie das geht. Ich hab’s schon bei meinen Kindern nicht gemacht. Wir Sternbergs haben uns zu früh von Gott abgesetzt.«
Sie liefen die Habsburgerallee entlang. An der Arnsburger Straße blieb Betsy stehen. »Hier hat unser Kohlenhändler gewohnt«, fiel ihr ein. »Ein hochanständiger Mann. Er hat uns im Ersten Weltkrieg so beliefert, als wären wir mit ihm verwandt, und 1933 hat er so getan, als hätte
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