Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
Heiterkeit der Sorglosen; für einen Moment, der nach nur zwei Lidschlägen verging, sah sie aus wie ein Kind.
    »Ich hab das Gefühl, dass wir beide gute Freunde werden, Mademoiselle Feuereisen«, sagte Betsy. »Es ist das erste Mal, dass ich dich lachen höre. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Dich fröhlich zu sehen ist mehr, als ich je vom Schicksal erbeten habe. Außerdem musst du wissen, bin ich heilfroh, dass ich nicht eine Großmutter der herkömmlichen Art sein muss. Mit silbernen Löckchen und Spitzenkragen. Eine, die mit Bällen wirft, Puppenjäckchen häkelt und »Backe, backe, Kuchen« singt, bis sie nicht mehr bis drei zählen kann. Das hab ich alles lange hinter mir.«
    »Ich auch«, erwiderte Fanny, »nur anders. Ich weiß gar nicht, ob ich je Puppen hatte, die Jäckchen brauchten.«
    »Sie haben bestimmt Jäckchen gebraucht, nur Hitler war dagegen. Wir hatten nicht mehr den Kopf, um Kinder zu verwöhnen und Fantasiewelten aufzubauen. Mit dir hat auch keiner mehr gesungen.«
    Fanny rieb den Schmerz, der sich als Schweiß tarnte, von der Stirn und ihre Augen trocken. Zur Großmutter, die sie noch nicht einmal drei Wochen kannte, sagte sie: »Mein Vater konnte wunderschön singen.«
    »Das hast du nicht vergessen? Nach all den Jahren weißt du noch, dass er eine großartige Stimme hatte! Wir haben immer gesagt, mit der Stimme kannst du auch deinen Lebensunterhalt als Kantor verdienen, Fritz, und er hat jedes Mal darauf geantwortet: ›Jüdisch Brot ist hartes Brot.‹ Du warst doch noch so klein, als er ging. Wir haben alle gedacht, dass du nichts mitbekommen hast. Du hast nie nach ihm gefragt.«
    »Ich hab nichts vergessen. Schon gar nicht meinen Vater. Nur meistens fehlen mir die Worte, um das zu sagen, was ich will, und dann halt ich lieber den Mund. Außer, wenn ich mir dir zusammen bin, da steckt meine Zunge nicht fest; das ist mir schon beim allerersten Mal aufgefallen. Und jetzt verrate ich dir was: Ich weiß genau, wo wir gerade sind. Wenn du deine Augen zumachst und dich von mir führen lässt, liefere ich dich in der Rothschildallee ab. Wir werden vor dem Haus stehen und so tun, als wären wir nie weg gewesen. Unsere Sophie will immer, dass ich mit ihr Blindenhund spiele.«
    »Um Himmels willen! Wenn ich je meine Augen gebraucht habe, dann in der nächsten Viertelstunde. Mir ist ganz schlecht. Das ist die Aufregung.«
    »Mir auch. Aber nur ein bisschen. Der Rest von mir passt auf dich auf.«
    Sie überquerten die einst geschäftige Berger Straße, in ganz Frankfurt als »Bornheimer Zeil bekannt« und der Stolz des Viertels. Vor dem Krieg hatte es geheißen, man finde auf der Berger Straße alles vom Kragenknöpfchen bis zum Sargnagel. Am Gemüsegeschäft, an das sich Betsy noch gut erinnerte, weil es immer eine Woche vor der Konkurrenz Spargel verkauft hatte, verkündete ein Schild »Laufmaschenaufnahme«. Auf vier Ziegeln lag ein Brett, drauf stand eine Handnähmaschine. Auf einem Hocker saß eine magere junge Frau mit blutrot geschminkten Lippen. Sie wirkte erschöpft, doch winkte sie mit einer grauen Herrensocke, als sie Betsys Aufmerksamkeit bemerkte.
    »Laufmaschenaufnahme«, schüttelte Fanny den Kopf, »die hat man wohl als Kind zu heiß gebadet. Woher sollen wir denn Laufmaschen nehmen, wenn wir keine Strümpfe haben?«
    Vor einem Haus, von dem nur der erste Stock und das Parterre erhalten geblieben waren, saßen zwei schwarzhäutige Soldaten und aßen lange Würste zwischen dicken Weißbrotscheiben, aus denen Tomatenketchup tropfte. Die fröhlichen GIs hatten drei junge, begierig blickende blonde Fräuleins und eine Schar bettelnder Kinder angelockt; die Buben brüllten abwechselnd »Chewing Gum« und »Camels«, kleine Mädchen in verwaschenen Strickjacken riefen »Candy« und streckten ihre Hände vor.
    »Noch fünf Minuten«, sagte Betsy, »dann haben wir’s geschafft, wir sind schon in der Höhenstraße.«
    Trotz der vielen zerstörten Häuser gab es noch Geschäfte, die sie von früher kannte; einige waren geschlossen, bei anderen ließ sich nicht ausmachen, was sie verkauften. Ein Messerschleifer mit zerlöchertem Hut stand vor einem zerbombten Haus. Er hielt abwechselnd ein Tranchierbesteck und eine Schneiderschere hoch. Ein Kriegsversehrter mit Krücken bot in einem aufgeweichten Pappkarton kleine geschnitzte Holzpferde an. »Können sogar wiehern«, sagte er, als Fanny stehen blieb. In einem ehemaligen Kolonialwarenladen, der für seine große

Weitere Kostenlose Bücher