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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ihm niemand gesagt, dass Juden Aussätzige sind. Schau doch mal, der wunderbare Rosenkohl in dem Garten vor dem Haus mit den vernagelten Fenstern. Da läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Rosenkohl mit Sahnesauce und Muskat. Josepha hat das so wunderbar hingekriegt.«
    Sämtliche Vorgärten dienten der Ernährung. Die Kartoffeln waren abgeerntet, der Weißkohl noch nicht. Lauchstangen steckten noch in der Erde. Petersilie und Schnittlauch wuchsen in kleinen Töpfen. Auf den Balkons der oberen Etagen trotzten gehätschelte Tabakpflanzen dem Winter. Schilder, mit Draht auf den eisernen Zäunen angebracht, warnten: »Diebe werden ohne Ansehen der Person umgehend der Polizei übergeben.«
    »Nebbich«, spottete Betsy, »als ob die deutsche Polizei nichts anderes zu tun hat, als deutsche Kohlköpfe zu schützen. Entschuldige, Fanny, du hast wirklich eine verkalkte Großmutter. Die hat soeben total vergessen, dass du das Wort Nebbich ja gar nicht mehr kennen kannst.«
    »Doch! Mein Onkel Erwin hat immer Nebbich gesagt. Daran kann ich mich noch ganz genau erinnern.«
    »Dein Onkel Erwin ist mein Sohn.«
    »Ich weiß, aber ich hab mir das nie so richtig klargemacht, bis du gekommen bist. Dabei bete ich jeden Abend, dass er uns schreibt. Anna wünscht sich das so. Manchmal denk ich, dass sie in Erwin verknallt war.«
    »Von den Geschwistern hatte er das größte Herz und den besten Charakter. Es wird mich bis zu meinem letzten Tag beschämen, dass Anna das so viel eher erkannt hat als ich.«
    »Anna hat auch ein riesengroßes Herz«, sagte Fanny.
    »Wem sagst du das? Komm, lass uns mal rüber zu dem Wasserhäuschen gehen. Ich hab keins mehr gesehen seit damals. Wasserhäuschen waren immer typisch für Frankfurt. Die Kinder haben dort jeden Pfennig, den sie hatten, für Brausepulver und Lakritzschnecken ausgegeben. Nur unsere Alice nicht. Sie schwärmte für glitschige grüne Gummischlangen, und später hat Erwin gesagt, die Gummischlangen seien schon die Vorbereitung auf Südafrika gewesen. Gott schütze mich vor meinem Gedächtnis!«
    Das Wasserhäuschen aus ungehobelten Brettern stand auf dem Grasstreifen, der die Habsburgerallee teilte. Vor einer breiten Öffnung war ein Brett angebracht, das als Tresen diente und auf dem noch »Vorsicht, Gift!« zu lesen war. Ein gelbgesichtiger Mann mit grauer Pudelmütze und einer Brille, die durch ein Stück Gummi von einem Einweckglas gehalten wurde, stützte seine Ellbogen auf dem Tresen auf. Er nickte, noch ehe Betsy und Fanny seine Bude erreicht hatten. Seine Rechte steckte in einem zerlöcherten Wehrmachtshandschuh; mit dem Zeigefinger deutete er auf ein mit Rotstift beschriftetes Pappschild, auf dem in Blockbuchstaben »Heißgetränk, jederzeit frisch« stand. Vor der Tür glühte ein kleiner Holzkohlenofen, aus einem schwarzen Suppentopf mit wackligem Deckel stieg Dampf. »In fünf Minuten heiß, heiß wie die Hölle«, lockte der Mann. »Die Heißgetränke von Theo Tausendsassa wärmen von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Da begreift man, dass es sich gelohnt hat, den verdammten Krieg zu überleben. So was hat’s auf der Tour nach Stalingrad nicht gegeben. Da haben wir Schneewasser erhitzt und sind an der Ruhr verreckt.«
    »Wenn das so ist«, sagte Betsy, »dann nehmen wir zwei Portionen. Was wärmt denn besser, grün oder rot?«
    »Hauptsache, nicht braun«, wieherte Theo. Er ließ den Brillengummi gegen seine Wange schnappen. »Braun haben wir ja hinter uns. Behaupten jedenfalls die Leut, die alles besser wissen. Besser als Gott und die Amis. Jetzt haben wir die Demokratie. Da darf jeder Idiot sagen, was er denkt. Dabei denken wir ja doch alle dasselbe. Ein Schmalzbrot beim Adolf war tausend Mal gesünder als der Hunger in der Demokratie. Von frommen Sprüchen ist noch nie ein Mensch satt geworden.«
    Sie drückten den Rücken gegen die Budenwand und schlürften das dampfende erdbeerrote Getränk, zu stark mit Sacharin gesüßt und deshalb zu bitter, aus zerbeulten Blechbechern. Betsy fiel schon beim ersten Schluck Hans Fallada ein. »Wer einmal aus dem Blechnapf frisst«, murmelte sie. Sie sah sich auf der mit rotem Plüsch bezogenen Récamière im Wintergarten sitzen. Falladas Buch lag auf dem weiß lackierten Wiener Kaffeehaustisch, den Johann Isidor ihr zum fünfzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte.
    Fanny lachte so sehr, dass sie ihren Becher abstellen musste. »Ich hab immer gedacht, nur Hunde dürfen fressen sagen«, prustete sie. In ihren Augen leuchtete die

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