Heimkehr in Die Rothschildallee
Johann Isidor schlug ihm auf die Schulter. »Der Sohn war klüger als der Vater«, sagte er. »Es war alles ein Irrtum, aber ich hab’s nicht besser verdient. Ich hab an Deutschland geglaubt.«
»Nicht nur du, Vater.«
»Ich hab nicht gewusst, dass ich so an dem Haus hänge, Fanny«, schluckte Betsy, als die Welt der Schatten sie endlich freigab. Sie umklammerte einen Gitterstab vom Zaun; ihre Knöchel waren weiß. »Dem Fliederbaum«, sagte sie, »ist es schnurz, für wen er blüht. Ich hab immer gesagt, dass die Natur kein Gewissen hat. Die Vögel haben auch in Theresienstadt gezwitschert, und die Sonne ist dort genauso aufgegangen wie in Venedig und in Timbuktu. Schau mal, das Haus muss einen Treffer abgekriegt haben. Der dritte und der vierte Stock fehlen.«
Über der zweiten Etage war ein Notdach aus Holz und Wellblech errichtet worden. In der Wohnung im ersten Stock, in der die Familie Sternberg noch im Schicksalsjahr 1933 vom Volk der Dichter und Denker gesprochen hatte, dem es zu vertrauen galt, war nur in den Fenstern zur Vorderfront Glas. Die Fenster an der Seitenmauer waren mit Brettern zugenagelt. Im asphaltierten Hof wucherte störrisches Gras zwischen den Steinplatten, im Vorgarten wuchsen Kohlköpfe im ehemaligen Rosenrondell. An der Hecke war ein Rattenloch. Die Haustür, einst Johann Isidors Stolz, weil sie künstlerisches Profil hatte und dem Prachtbegehren der Gründerzeit widersprach, war notdürftig instand gesetzt worden. Die Bleielemente fehlten, das Glas war zersplittert, den Türknauf, ursprünglich aus Messing, hatte man durch einen schäbigen Griff aus Bakelit ersetzt. Die Briefkästen im Hof waren verkratzt, verbogen und mit mehr Namen versehen, als früher Mieter im Haus gewohnt hatten. Auch die Namensschilder an den Klingeln, zum Teil mit Kopierstift geschrieben, zeigten an, dass mehr als die ursprünglich sechs Parteien im Haus lebten.
»Neugebauer«, buchstabierte Betsy. »Grundgütiger Himmel, die sind noch da. Die ganze Bagage! Sie waren Nazis bis zum Gehtnichtmehr. Im Fenster die Hakenkreuzfahne, aber jeden Sonntag in die Kirche. Ich glaube, der Mann ist beim Grundbuchamt gewesen. Ach, wie schön! Im Parterre steht noch ein Name. Jensen. Also hat die feine Frau Neugebauer, die ihre Jungs mit der Hundeleine prügelte und vor der wir zum Schluss solche Angst hatten, dass wir uns erschrocken in die Ecke verdrückten, wenn wir sie sahen, Zwangseinquartierung gekriegt. Offenbar gibt es doch noch Gerechtigkeit. Hoffentlich haben die Untermieter vier Kinder. Mögen sie alle Keuchhusten haben und Wände beschmieren. Wer ist wohl in unserer alten Wohnung gelandet?«
Sie kam nicht mehr dazu, sich mit dem Namensschild vom ersten Stock zu beschäftigen. Die Haustür wurde so heftig von innen aufgerissen, dass Betsy, den Türknauf in der Hand, sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Der Mann, das sah Betsy, während sie noch überlegte, ob sie Grund hatte, sich zu entschuldigen, hatte einen dunkelgrünen Ledermantel an. Der Mantel erinnerte sie spontan an die Mäntel, die die Gestapoleute getragen hatten.
Fanny, blass, dünn, mit zugekniffenen Augen und offensichtlich in Angst, drückte sich an die Hausmauer. Betsy wollte auf sie zugehen, denn sie wusste besser als andere, wie tödlich es war, Kinder nicht an die Hand zu nehmen. »Doch«, sagte sie. Ihre Stimme war fest, obwohl es der Moment war, in dem sie Zeit und Raum verwechselte. Sie hielt Fanny für Claudette. »Du bist doch längst in Palästina«, sagte sie.
»Ich bin doch bei dir«, widersprach Fanny. Sie stand nicht mehr an der Hauswand. Auch war sie nicht mehr klein, und sie kniff die Augen nicht mehr zu.
Der Mann nahm seinen Hut ab. Er hatte dichtes graues Haar, eine tiefe Falte auf der Stirn, graue Augen und buschige Brauen; er mochte um die fünfzig sein und hatte augenscheinlich sehr abgenommen. Der Mantel war ihm zu weit, die Hose zu lang. Sein Hals war dünn und faltig. Links trug er einen orthopädischen Schuh.
Betsy wusste sofort Bescheid. Trotzdem schaute sie nach dem rechten Arm des Manns und sah, dass er schlaff nach unten hing. »Ach«, sagte sie. Ihr wurde schwindlig und übel. Sie spürte Fannys Hand auf ihrem Arm. Ob sie ihm würde erklären müssen, wer sie war? Wie ihn anreden, wie überstehen, was zu überstehen war?
»Frau Sternberg«, sagte er. Seine Stimme, so wohltuend für ein musikalisches Ohr, hätte Betsy unter Hunderten erkannt. »Das ist ein Freudentag für uns alle. Nie hätte ich das
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