Heimkehr in Die Rothschildallee
Auswahl an Kaffeesorten bekannt gewesen war, lockte ein mit bunten Wollfäden verziertes Schild: »Geprüfte Wahrsagerin und Handleserin. Leistungen nur gegen Brot- oder Fleischmarken oder in Naturalien. Auch gut erhaltener Kindermantel gesucht.«
»Ich glaube, Wahrsager haben Hochkonjunktur. Es gibt so viele Menschen, die vermisste Familienmitglieder suchen.«
»Wenn ich Fleischmarken hätte«, sagte Fanny, »würde ich auch hingehen. Ich suche ja auch jemanden.«
»Uns kann kein Wahrsager helfen. Was wir brauchen, ist die Wiederaufnahme des Postverkehrs mit dem Ausland.«
Vor dem Bäcker an der Kreuzung zur Heidestraße wartete die übliche Schlange graugesichtiger, mutloser Menschen. An der Schaufensterscheibe klebten ein winziger Tannenzweig und die Bekanntmachung: »Wegen Backverbots im Haushalt keine Annahme von hausfremdem Kuchenteig zum Ausbacken«. Vor dem Milchladen standen hauptsächlich Frauen und Kinder, alle mit Kannen, Henkelmännern aus Wehrmachtsbeständen, Krügen oder Einmachgläsern.
»Dort«, sagte Betsy, »haben wir auch immer gekauft. Um nichts in der Welt hätte Josepha die Butter woanders geholt. Noch nicht mal in der Freßgass. Der Inhaber war grundsätzlich schlechter Laune, aber kein Nazi. Weiß Gott nicht. Er hat mich bis zum letzten Tag gegrüßt. Du lieber Himmel, da steht er. Das kann doch nicht wahr sein. Es hat sich nichts verändert, die Welt dreht sich weiter, als hätte es die Nazis und die KZs nie gegeben. Fanny, lass dich anfassen. Sag mir, dass ich lebe und dass es dich gibt. Ich hab das Gefühl, ich löse mich gleich in Luft auf. Oder ich falle um.«
Fannys Augen strahlten Freude. Noch nie war sie Stütze für eine Schwache gewesen, immer hatte sie die Arme ausgestreckt und Halt gesucht. Zunächst spürte sie nur den Stolz, der sie wärmte; dann durchströmte sie eine Liebe, die sie stark machte und sicher. Diesmal wunderte sie sich nicht, dass sie kein einziges von den Worten auszusprechen vermochte, die in ihr drängten.
»Wir sind auf der falschen Seite«, bemerkte Betsy. »Komisch, ich bin immer auf dieser Seite gegangen und die Mädchen auf der anderen. Warum fallen mir solche Nebensächlichkeiten überhaupt ein? Und warum tun sie so verdammt weh?«
An der Kreuzung von Rothschildallee und Burgstraße erkannte sie die Drogerie, in der Josepha jedes Frühjahr frische Fliegenfänger, Mottenkugeln, Einmachgewürz und Spiritus für den großen Hausputz gekauft hatte. Die Tür war offen, die Inhaberin in einem blau-weiß gepunkteten Wollkleid und mit fest geflochtenem Nackenknoten stand mit verschränkten Armen vor ihrem Laden. Betsy merkte, dass die Frau sie sofort erkannt hatte; sie wirkte fassungslos, schien verwirrt, griff sich an den Kopf. Dennoch machte sie eine Bewegung, als wollte sie auf Betsy zugehen.
»Komm weiter, Fanny, schnell! Wenn ich jetzt reden muss und dann noch mit ihr, kann ich mich nicht mehr halten. Weder auf den Beinen noch im Kopf. Sie war immer so penetrant neugierig. Ich hab das damals schon nicht ertragen können. Ich sehe sie noch, wie sie uns beobachtet hat, als wir aus dem Haus mussten. Sie hat nichts gesagt, aber man kann auch auf Menschen losgehen, ohne ein Wort zu sagen. Noch eine Minute, dann haben wir’s geschafft. Jetzt und für immer. Darf man das überhaupt, nach hinten schauen, in der Vergangenheit blättern wie in einem Buch? Werde ich finden, was ich suche, oder werde ich wie Frau Lot zur Salzsäule erstarren?«
Vor dem Haus, in dem sie achtunddreißig Jahre lang besitzerstolz gelebt, gehofft, gelitten und für immer Abschied von der Illusion genommen hatte, Deutschland wäre ihr Vaterland und Frankfurt ihre Heimat, wurde Betsy tränenblind. Ihr Körper ertaubte, die Lippen zitterten; sie presste die Linke eisenfest aufs Herz und spürte doch mit jedem Schlag wieder die Angst und die Verzweiflung vom letzten Tag im geliebten Haus. Aufs Neue loderten die Scham und die Verzweiflung, zu den Ausgestoßenen und Verdammten zu gehören. »Ich musste kommen«, flüsterte sie, »ich hab nicht vergessen können.« Sie legte ihre Hand auf die Mauer.
Die Bilder, die Betsy sah, trieben sie in den Keller und auf den Speicher, vor die Türen der Mieter, in die eigene Wohnung mit den bordeauxroten Schabracken an den Fenstern des Salons und schließlich zu dem Kirschbaum im Hinterhof. »Wir wollen dieses Jahr die Kirschen beizeiten einmachen, Josepha. Man weiß nie, wann die Spatzen zuschlagen.«
»Nicht nur die Spatzen«, wusste Erwin.
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