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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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glücklich ich bin. Mir ist noch nie ein Wunsch in Erfüllung gegangen. Jedenfalls nicht mehr seit dem Tag, als du gesagt hast, ich muss mir die Schuhe für die große Reise putzen. Weißt du denn noch, dass du das gesagt hast? Ich hab damals auch Salos Stiefel geputzt. Du hast es gesehen, aber ich weiß nicht mehr, ob du was gesagt hast.«
    Es war das erste Mal, dass Fanny den Namen ihres Bruders aussprach. Betsy presste Fanny so fest an ihren Körper, wie sie keines ihrer Kinder je gedrückt hatte. Sie dankte Gott, dass er sie wieder lieben ließ, und warnte Fanny: »Freu dich nur nicht zu früh, mein Kind. Am Ende bringt deine Großmutter den Mut auf, dir ihren Herzenswunsch zu verraten.«
    »Tu das. Wirklich! Du musst dich nur trauen. Du wirst auch nicht enttäuscht sein. Ich kann nähen, stricken, sticken und häkeln. Ich kann vorlesen, ohne müde zu werden, und ich kann ganz gut malen und zeichnen. Jedenfalls hat mich meine Lehrerin im Philanthropin oft gelobt. Schade, dass Papier so knapp ist, und ich weiß schon gar nicht mehr, wie ein Tuschkasten aussieht. Also muss ich mir Malen verkneifen, bis die Zeiten besser werden.«
    »Ich fürchte, du hast dir die falsche Großmutter ausgesucht. Schon als Mutter war ich nicht nach dem Geschmack meiner Kinder. Ich bin nicht in Entzückensschreie ausgebrochen, wenn sie mit ihren selbst gemachten Geschenken anrückten. Die Bilder, die sie gemalt haben, habe ich nicht in die Küche gehängt, die Ketten und Armbänder, die sie für mich fädelten, wanderten in Kästchen und die Kästchen irgendwann auf den Speicher. Ich war keine jiddische Mamme, ich hielt meine Kinder nicht für Genies. Heute schäme ich mich, dass ich noch nicht einmal die Begabung von deinem Onkel Erwin erkannt habe. Ich schaute mir seine Bilder an, sagte ›schön, schön‹ und steckte sie in die Schublade.«
    »War er da nicht schrecklich traurig?«
    »Bestimmt, aber ich hab’s nicht gemerkt. Weiß Gott, wo ich mit meinen Gedanken war. Übrigens tu ich mich besonders schwer mit Gehäkeltem, aber versuch dir vorzustellen, wie viele Topflappen vier Töchter im Laufe ihrer Kindheit häkeln. Zu jeder Gelegenheit, und manchmal zwei auf einmal. Später war Claudette das fleißige Lieschen. Meine erste Enkeltochter hat mehr Topflappen produziert, als ich Töpfe hatte. Für jeden Blumentopf hat sie ein Deckchen gestickt, sämtliche Taschentücher hat sie mit Häkelrand versehen. Du siehst, Fanny, mit Leuten, die alles schon mal erlebt haben, hat man es schwer. Jedenfalls brauchst du für meinen Herzenswunsch weder Tuschkasten noch Wolle. Nur Courage, aber davon jede Menge. Ich wünsche mir nämlich so sehr, dass du in die Schule gehst. Nur was man im Kopf hat, können sie einem nicht nehmen.«
    »Ich weiß«, sagte Fanny. »Das habe ich schon damals gespürt, als alles zu Ende war. Es ist ja auch nicht so, dass ich nicht lernen will. Aber ich habe Angst vor den Mädchen, mit denen ich lernen muss. Und Lehrerinnen, die noch nie eine jüdische Schülerin gesehen haben, kann ich mir schon gar nicht vorstellen.«
    »Ich leider doch«, seufzte Betsy, »Theo Berghammer aus der Rothschildallee 9 war eine gute Einführung in das Thema. Es ist gut, dass du dabei warst.«
    Betsys Habe passte immer noch in den kleinen braunen Fiberglaskoffer, den ihr die amerikanische Krankenschwester mit der harten Stimme und dem weichen Herzen bei der Befreiung aus Theresienstadt in die Hand gedrückt hatte. Auf dem Koffer stand, genau wie auf der Whiskyflasche, »Property of the US Army«. Selbst die Monate im Krankenhaus hatte der wehrhafte Koffer überdauert – im Gegensatz zu dem ebenfalls in Theresienstadt überlassenen Rock. Auch die eine der beiden Blusen war Betsy im Hospital gestohlen worden, zuletzt die ihr von einer jungen Ärztin überlassenen zehn Aspirintabletten. Ihr jüngster Schatz war ein Ausschnitt aus der »Münchner Zeitung« mit der Silvesterrede des von den Nazis verfolgten Kabarettisten Werner Finck. Der von Betsy schon in den frühen Dreißigerjahren bewunderte Meister der Pointe verabschiedete das alte Jahr mit den Worten: »Können wir diesem fünfundvierzigsten Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts eine Träne nachweinen? Nein, denn wir haben keine mehr.« An das Jahr 1946 richtete Finck die Bitte: »Wende unsere Not, gib uns neue Illusionen!«
    Am Donnerstag, dem 3. Januar, verabschiedete sich die viel beneidete Frau Sternberg, von der das Gerücht weiterhin wissen wollte, sie sei eine geborene

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