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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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die den Abend zu einem sehr besonderen machte. Zehn Minuten vor Mitternacht stellte sie ihr Glas auf den Tisch. Sie schaute Hans und Anna an, griff nach Fannys Hand und erklärte in einem Ton, der Bewegung verriet, obwohl sie gerade das nicht wollte: »Ihr habt alle recht gehabt, von Anfang an habt ihr klar gesehen. Nur die kluge Frau Sternberg musste tagelang mit sich selbst Krieg führen, bis sie zu dem Ergebnis kam, dass Gott sie nicht hat Theresienstadt überleben lassen, damit sie in einem Altersheim vor sich hindämmert und die Schafe auf dem Rasen zählt. Wenn ihr es euch wirklich gut überlegt habt, ob ihr euch eine alte Frau antun wollt, die einen Sack voll Albträumen auf dem Buckel schleppt und die noch nicht einmal mehr einen Suppentopf halten kann, ohne dass jeder um sein Mittagessen fürchtet, würde ich sehr gern zu euch ziehen. Jedenfalls bis ein Wunder geschieht und man den Juden, die die Nazis nicht mehr beizeiten haben umbringen können, zurückgibt, was man ihnen gestohlen hat. Das kann allerdings dauern. Generationen, nehme ich an. So, das war eine überlange Rede. Es soll nicht wieder vorkommen. Alte Frauen quatschen zu viel.«
    Ihre feuchten Augen, setzte sie hinzu, hätten nichts mit ihrem Entschluss zu tun, in die Thüringer Straße zu ziehen. Die Tränen kämen ausschließlich von der Bowle. »Meinen letzten Alkohol habe ich in der Rothschildallee getrunken, und sehr trinkfest war ich nie.«
    »Einmal hast du zu Silvester sogar vergessen, dass ich nicht deine Tochter bin«, lächelte Anna.
    »Das vergesse ich immer noch. Nicht nur zu Silvester.«
    Um Mitternacht waren in der erschöpften Stadt trotz des fauchenden Winds Kirchenglocken zu hören, vereinzelt sogar Stimmen, die den Frohsinn vergessener Zeiten ahnen ließen. Im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte die Frau, von der es hieß, sie hätte drei Söhne gehabt und alle wären an der Ostfront gefallen, eine Schallplatte aufgelegt und ein Fenster aufgemacht. Heinz Rühmann, Willy Fritsch und Oskar Karlweiss sangen »Ein Freund, ein guter Freund«.
    »Die drei von der Tankstelle«, schluckte Betsy. »Mein Gott, auch das noch. Johann Isidor hat für Rühmann geschwärmt. Wir sind zwei Mal ins Kino gegangen, um den Film zu sehen, und zu seinem Geburtstag habe ich ihm die Schallplatte geschenkt. Stimmt, jetzt weine ich tatsächlich.«
    »Ich auch«, sagte Anna, »hört das denn nie auf?«
    »Nie. Das Gedächtnis ist ein Sadist.«
    Im fahlen Licht einer Laterne, die sonst nur bis abends um zehn brennen durfte, standen einige Halbwüchsige, schwenkten dürre Zweige und lachten. Ihr Gelächter war so dürr wie sie selbst. Einer machte eine Bewegung, um einen der Stöcke anzuzünden, die anderen hielten ihn zurück; Brennstoff war mehr wert als die kurze Freude an einer Fackel. Trotzdem brüllten zwei Jugendliche: »Prost Neujahr.« Sie warfen ihre Mützen in den dunklen Himmel und sprangen ihnen nach, und einen Moment wirkten sie, als hätten sie jeden Tag genug zu essen und einen warmen Wintermantel im Schrank.
    »Ist das Frieden?«, fragte Fanny.
    »Und ob!«, bestätigte Betsy. »Schon meine Großmutter hat gesagt, Fröhlichkeit vertreibt Leid.«
    »Ich hab gedacht, früher hat man gar nicht gewusst, was Leid ist.«
    »Juden haben immer gewusst, was Leid ist. Vierzig Jahre durch die Wüste zu laufen und das gelobte Land zu suchen war auch kein Vergnügen. Da kann es noch so viel Manna vom Himmel regnen.«
    Erwin schlief, am Daumen nuckelnd, im Sessel, Sophie schlummerte vor dem Ofen, der durch zwei zusätzliche Briketts das Jahr der Erwartung mit Flammen empfing. Hans versorgte den bockigen Küchenherd mit den Überresten einer Bank, die er zerhackt in der Habsburgerallee aufgespürt hatte, ehe der Missetäter seine Beute hatte abschleppen können. Anna wärmte eine Suppe aus getrockneten Brennnesseln, getrocknetem Löwenzahn, frischen Kartoffelschalen und eigens für Silvester gehüteten Streifen von Wirsing auf. Den Mitternachtsschmaus bezeichnete sie als Gulaschsuppe, denn zum Würzen hatte sie sowohl echten Pfeffer als auch den ungarischen Paprika genommen, den Hans als Zugabe zum Whisky erhandelt hatte. Betsy sah so entspannt aus wie an keinem Tag seit ihrer Rückkehr aus der Hölle. Sie löschte die Kerze im blauen Porzellanhalter. »Wir wollen sparen«, sagte sie, »wo es jetzt einen Esser mehr in der Familie gibt.«
    »Ich freue mich so schrecklich«, raunte Fanny ihr zu, »ich kann dir gar nicht sagen, wie

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