Heimkehr in Die Rothschildallee
Gesicht. »Mein Papa hat nur ein Bein«, kreischte sie. »Und er ist nicht zu Hause.«
»Aber Fanny wohnt doch hier, oder nicht? Fanny Feuereisen.«
»Natürlich wohnt sie hier. Fanny ist doch meine Schwester. Aber Fanny ist auch nicht zu Hause. Sie ist in der Schule.«
9
DR. FRIEDRICH FEUEREISEN
HAT DAS WORT
Mai 1946
Obwohl der Kastanienbaum auf der gegenüberliegenden Straßenseite schon seit zwei Wochen mit seinen Kerzen lockte und im Vorgarten vom Nachbarhaus ein kleiner Apfelbaum in voller Blüte stand, schmetterte Anna abwechselnd »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus« und »Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün«. Gewöhnlich war ihr weder die Freude am Gesang gegeben noch die Eigenschaft, der Natur wegen in Euphorie zu geraten. Seitdem aber ihr Schwager Fritz mit Sophie an der Hand vor der Tür gestanden hatte und sie einer Ohnmacht nahe gewesen war, weil sie einen Herzschlag lang gedacht hatte, Erwin wäre heimgekehrt, befand sich Anna im seelischen Hoch.
An dem sonnenvollen Tag, da sie sämtliche ihr bekannten Frühlingslieder aus dem Gedächtnis holte, war sie auch guter Hoffnung, dass in Würfeln getrocknete Steckrüben im Ofenrohr zu Rosinen mutieren könnten. Anna war dabei, einen Kuchen zu backen, der in einem zu Ostern veröffentlichten Rezept als Festtagstorte bezeichnet worden war. Das Rezept, das sich auf eine Freifrau von Hermannshofen berief, hatte es in einigen Exemplaren beim Bäcker anstelle der Schwarzmehlkekse gegeben, die ursprünglich für Kinder unter sechs Jahren in Aussicht gestellt worden waren. Hergestellt wurde die adelige Festtagstorte aus Haferflocken, schwarzem Mehl, Eipulver, Sacharin, Malzextrakt und Honigersatz.
Die zeitgemäße Kuchenschöpfung sollte nicht nur den Besuch von Fritz krönen. Anna war schon seit zwei Wochen im Glücksrausch; das Schicksal hatte ihren größten Wunsch erfüllt. Wann immer sie mit Hans allein war, raunte sie ihm zu: »Jetzt sind wir wieder anständige Leute.« Worauf er jedes Mal sagte: »Erzähl’s nur nicht weiter. Nur Narren arbeiten noch für ihr tägliches Brot.«
Der Kriegsversehrte Hans Dietz tat es. Sein ehemaliger Arbeitgeber hatte vom Nachrichtenkontrollamt der amerikanischen Militärregierung die Lizenz erhalten, die »Frankfurter Neue Presse« herauszugeben. Die erste Ausgabe war am 15. April erschienen. Sie wurde im Wäscheschrank unter der Damasttischdecke für zwölf Personen aus dem Hause Sternberg verwahrt und beim ersten gemeinsamen Essen mit Fritz von der Hausfrau triumphierend hochgehalten. Die Überschrift auf Seite eins lautete: »Der Mensch ist Diener des Rechts«.
»Das geht an meine Adresse«, sagte Fritz.
Da Hans Dietz dem Verlag noch bekannt war und er nachweisen konnte, dass er nicht nur politisch unbelastet, sondern auch im Konzentrationslager Dachau inhaftiert gewesen war, hatte man ihn umgehend als Drucker eingestellt. Vorerst konnte die »Frankfurter Neue Presse«, genau wie die »Frankfurter Rundschau«, wegen Papiermangels nur zwei Mal in der Woche erscheinen. Der neu eingestellte Drucker empfand das als besondere Schicksalsgunst. Ihm würde, wie er Fritz klarmachte, als Anna es nicht hörte, »genug Zeit bleiben, um die Familie anständig auf dem Schwarzmarkt zu versorgen«.
Sophie war am Tag der schönen Lieder ebenso fröhlich wie ihre Mutter. Dass es zum Frühstück lediglich bitteren Malzkaffee und trockenes Brot gegeben hatte und vom Brot längst nicht so viel, wie sie gern gehabt hätte, bekümmerte sie nicht mehr als gewöhnlich. Seitdem nämlich Onkel Fritz Sophies Lebensbühne betreten hatte, war sie eine Prinzessin mit einem eigenen Schlaraffenland geworden. Für Prinzessin Sophie wuchsen quittegelbe Marzipanbrote auf Schokoladenwiesen, und vor dem Schlafengehen aß sie so viele Würstchen mit schneeweißen Brötchen, »wie es gar nicht gibt«.
Im tatsächlichen Leben lutschte die fantasievolle Sophie schon morgens um neun grasgrüne Bonbons mit einem Loch in der Mitte. Die wurden ihr in den Mund gesteckt, wann immer sie auf den Wundermann mit den vollen Taschen traf, der keinem Kind widerstehen konnte und sie nie spüren ließ, dass er Fannys Vater und nicht der ihre war. Unmittelbar nach dem Frühstück begann Sophie, auf dem winzigen Rasenstück im Hinterhof für »König Fritz« Gänseblümchen, Löwenzahn und lila Kleeblumen zu pflücken. Auch das Lied vom Maikäfervater im Krieg wollte sie ihm vorsingen. »Der Maikäfer Sumsemann hat auch ein Bein verloren.
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