Heimkehr in Die Rothschildallee
Wie mein Papa«, erzählte die fleißige Pflückerin ihrer Freundin Lena.
Da Lena meistens an neuen Erkenntnissen zweifelte, tat Sophie so, als hätte sie dies schon immer gewusst. Tatsächlich kannte sie den fünfbeinigen Käfer aus dem Kinderbuchklassiker »Peterchens Mondfahrt« erst seit drei Tagen. Da hatten Betsy und Fanny nicht nur die neu eröffnete Tauschzentrale auf der Zeil gründlich besichtigt. Sie hatten ebenso ausdauernd und erfolgreich gehandelt wie Hans, wenn er Schrott und abgefahrene Autoreifen in Butter, Speck, Kinderschuhe und Kleiderstoffe verwandelte. Aus Annas altem Waffeleisen, das schon deswegen nutzlos geworden war, weil es keine Zutaten gab, um Waffeln zu backen, und aus dem Einkochtopf, der im Hungerjahr 1946 nur den viel beneideten Schrebergärtnern von Nutzen sein konnte, hatten die unermüdliche Betsy und ihre staunende Enkeltochter einen ansehnlichen Bücherturm geschaffen. Jubelnd trugen sie Goethes »Goetz«, »Tasso« und »Egmont« sowie Schillers »Maria Stuart« und »Don Carlos« nach Hause, einen in grünes Leder gebundenen Band mit Gedichten aus drei Jahrhunderten und eine Sammlung Novellen des preußentreuen Schriftstellers aus der Bismarckzeit, Ernst von Wildenbruch, den Johann Isidor sehr geschätzt hatte. Dazu »Ein Kampf um Rom« von Felix Dahn, den erst Erwin und dann Clara und schließlich Vicky mit Taschenlampen unter der Bettdecke gelesen hatten, sowie Erich Maria Remarques berühmten Antikriegsroman »Im Westen nichts Neues«. Die Ausgabe hatte, wie der Besitzer eindrucksvoll berichtete, sowohl die Bücherverbrennung als auch die gesamte Nazizeit in einem ausgedienten Futtertrog im Schweinestall überlebt. Von der Freude seiner Kundinnen war er gerührt. Er überließ ihnen »Peterchens Mondfahrt«, obwohl sie ihr Punktekontingent aufgebraucht hatten.
Das berühmte Kinderbuch von Gerdt von Bassewitz löste noch in der Tauschzentrale bei Betsy eine Flut von Erinnerungen aus – und in der Nacht einen See von Tränen. Sie hatte die poetische Geschichte erst Alice, dann Claudette und schließlich der fünfjährigen Fanny vorgelesen. Einen Weltkrieg und einen Völkermord später war nun Sophie an der Reihe. Allerdings war sie die erste von Betsys gespannten Zuhörerinnen, die sich erkundigte, ob der Pfefferkuchenmann von der Weihnachtswiese essbar wäre und wem ein Bein ohne den dazugehörigen Maikäfer nutzen könnte.
Im größten Teil von Fannys Kindheit hatte sich niemand gefunden, der ihre Fragen beantwortete; das hatte sie verschlossen und schweigsam gemacht. Als sie ihren Vater wiederfand, fehlten ihr die Worte, um zu sagen, was sie fühlte. Auch Fritz scheute sich, von Courage, Segen und Seligkeit zu sprechen. Im Moment der Überwältigung vermochten Vater und Tochter nur, sich anzuschauen und einander zaghaft zu berühren. Fanden ihre Hände zueinander, ahnten sie, was die Sorglosen und Zungenflinken meinen, wenn sie von Glück reden; sie jedoch fürchteten sich, das Wort auszusprechen.
»Kennst du die eindrucksvolle Darstellung von Michelangelo, in der Gott Adam berührt?«, fragte Fritz am Abend, als die Worte wieder an Selbstverständlichkeit gewonnen hatten.
»Ich kenne noch nicht mal Michelangelo«, antwortete Fanny. Sie wunderte sich, dass ihr der schwierige Name gelungen war, und wagte ihr erstes Tochterlächeln. »Ehe Großmutter kam, habe ich überhaupt keinen Menschen gekannt, der von Bildern spricht. Und von Musik. Ich werd das nie können.«
»Hast du eine Ahnung, was du alles können wirst! Warte nur, bis ich reich genug bin, um für uns beide eine Bahnfahrkarte nach Rom und Florenz zu kaufen. Und nach Paris. Ja, nach Paris fahren wir zuallererst. Zur Mona Lisa. Ihr ist das Lächeln nie vergangen. Und dann fahren wir nach Amsterdam. Amsterdam ist eine wunderschöne Stadt, wenn man keine deutschen Uniformen sieht und nicht Angst um sein Leben hat.«
»Was machen wir, wenn wir verreisen?«
»Wir holen alles nach, was die Nazis uns gestohlen haben. Das Leben und die Kunst. Und das Lachen. Wir werden nie mehr traurig sein, du und ich, und wir kaufen uns ein fettes Huhn.«
»Zum Schlachten?«
»Wo denkst du hin? Zum Eierlegen. Goldene Eier in einem Nest aus Sternenstaub. Das Nest habe ich mir schon als kleiner Junge gewünscht.«
»Ich wünsche mir eine Bratpfanne. Für Anna. Ihre ist ganz verrostet.«
»Dafür müssen wir Fortuna nicht bemühen. Und den lieben Gott schon gar nicht. Bratpfannen gibt es im PX.«
Am ersten Tag auf der neuen
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