Heimkehr in Die Rothschildallee
anzeigte. An den Fingern zählte er ab, wie lange es her war, seit er aus seiner Vaterstadt geflüchtet war. »Acht Jahre«, sagte er in seiner Muttersprache, »nein, acht Jahre und sieben Monate.«
»Hi«, protestierte Washi, »wir haben doch ausgemacht, dass du nicht Chinesisch redest. Wen besuchst du eigentlich in Frankfurt?«
»Meine Schwiegermutter«, erwiderte Fritz. Noch brachte er es nicht über sich, mit einem Fremden über Fanny zu sprechen.
»O Gott, ich laufe meilenweit, um meine nicht zu sehen. Sie stinkt und beißt und geht mir an die Hose.«
»Ich habe meine Schwiegermutter das letzte Mal vor acht Jahren gesehen.«
»Das nennt man Glück.«
»Sie war in Theresienstadt.«
»Wo ist denn das schon wieder? Ich war nicht schlecht in Geografie, aber ich werde mich in diesem verdammten Europa meiner Lebtag nicht auskennen.«
»Theresienstadt war ein KZ. Kannst du mal bitte anhalten, Washi? Mir wird schlecht. Ich hätte heute Morgen doch lieber Tee trinken sollen.«
Mit den Trümmern von Frankfurt und dem Main schon im Blick stand Fritz würgend unter einer deutschen Eiche und erinnerte sich an Fräulein Farn mit dem Haarknoten und den vorstehenden Zähnen. Fräulein Farn hatte ihm befohlen, zehn Mal den Satz »Je größer die Stürme, desto fester wurzelt die deutsche Eiche« zu schreiben. »Das wird dich lehren, dich wie ein deutscher Junge zu benehmen«, schrie die Pädagogin.
Es entsetzte Fritz, dass er seinem Körper hatte nachgeben müssen und seine Fantasie nicht hatte bändigen können. Trotzdem war er ruhig und ohne Furcht, als er wieder in den Jeep kletterte. Nur um seinem Reisefreund die Situation zu erklären, sagte er: »Wir sind jüdisch.«
»Da sitzen wir ja im gleichen Boot«, erkannte Washi. »Neger und Juden haben beide nichts zu lachen, wenn die anderen auf die Jagd gehen.«
»Das hast du wunderbar gesagt, mein Freund. Tu mir einen Gefallen, Washi. Wenn wir an der Thüringer Straße sind, halt bitte an der Ecke an. Das letzte Stück möchte ich allein gehen.«
»Du sagst immer bitte, wenn du was willst. Das gefällt mir. So was ist unsereiner nicht gewohnt.«
Der Mann, der erst seit zehn Tagen und vier Stunden wusste, dass er seine Tochter hatte behalten dürfen, stand vor dem Haus Nummer 11 und blickte in die Richtung, in der der Jeep verschwunden war. Er hörte sich atmen und hatte das Bedürfnis, Washi zurückzuholen. Zunächst wurden die Arme steif, dann auch die Lippen. Er fragte sich – doch ohne Furcht –, ob ein Mensch es mitbekam, wenn sein Herz zu schlagen aufhörte.
Die Klingelleiste an der Haustür war weiß und auffallend. Fritz sah, dass auf einem der Schilder sowohl Dietz als auch Sternberg stand. Er buchstabierte beide Namen, ging auf die Tür zu, streckte die Hand vor, wagte aber nicht, den Klingelknopf zu berühren. »Ach«, sagte er. Schon das eine Wort verstopfte seine Kehle. Er stellte den Koffer auf den Boden, hob ihn sofort wieder hoch, senkte den Kopf und war sicher, er hätte zu atmen aufgehört.
»Wo willst du hin?«, fragte das Mädchen. Sie hatte eine geblümte Kinderschürze über ihrem blauen Kleid und eine weiße Haarschleife.
Sophie schob ihre Freundin Lena zur Seite, setzte die Puppe im rosa Ballkleid zwischen die Gitterstäbe des Zauns, hielt Fritz ihre Rechte hin und knickste tief, denn sie hatte ihn aus dem Jeep steigen sehen. Weil er den Koffer hatte abstellen müssen, wusste das schlaue Kind, dass der Koffer schwer war und dass sich Artigkeit empfahl. »Bist du ein Ami?«, fragte Sophie.
Fritz wollte sie anlächeln, ihre Puppe bewundern, ihr zu erklären versuchen, weshalb er gekommen war, doch seine Lippen klebten aufeinander. Sophie fing zu kichern an, erst leise, dann laut, schließlich mit hoch erhobenen Armen. Es war der Moment, da Fritz stolperte, seinen Mut und die Orientierung verlor. Er sah den Koffer brennen, die Flammen lodern, verwechselte Zeit und Ort, verwechselte das Glück des Wiederfindens mit der Verzweiflung des Verlusts. Weshalb waren ihm die Augen nicht vertraut, in die er blickte, weshalb war seine Tochter so blond, so klein? Warum sah sie weder Vicky noch ihm ähnlich? Wie konnte sie nach allem, was ihr im Leben angetan worden war, mit einer Puppe spielen und wie ein kleines Mädchen knicksen? Trotzdem sagte er: »Ich bin dein Papa.«
»Mich legst du nicht rein«, wusste Sophie, »mich nicht.« Sie kicherte abermals, stampfte mit ihrem rechten Fuß auf, schüttelte den Kopf. Ihre langen Zöpfe schlugen ihr ins
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