Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
die erste Wiese haben wir schon geschafft, und das war doch gar nicht schwer. Noch siebenmal so viel, und wir haben’s …«
»Ja, Satanssonde, das sieht Ihnen ähnlich, solch teuflische Milchmädchenrechnungen anzustellen! Das kleine, das ganz kleine Einmaleins, das uns nicht nur den Berg runter, sondern direkt unter die Erde …«
»Aber ich wollte dem Jungen doch nur …«
»… falsche Hoffnungen machen und sich selbst auch, sich unter Laborbedingungen das Leben en suite hochrechnen, keine Erschöpfungen, Steigungsänderungen, Verirrungen einrechnen, weder Hunger noch Durst, oh nein, acht mal eins ist acht, in der Tat, wenn man sich direkt ins Verderben hineinrechnen will!«
»Professor, Sie wissen so gut wie ich, dass eine realistische Kalkulation vor uns liegender Anstrengungen und vorhandener Kräfte uns sofort in die Knie zwänge. Also lassen Sie uns bitte die Bücher ein wenig frisieren, auf dass es doch noch ein gutes Ende mit uns nehme.«
»Ach, parole, parole, parole !« Wieder einmal klopft er mir spechtartig mit dem Zeigefinger gegen die Brust, was in der Dunkelheit schwer zu ertragen ist. »Sie sind eine alte ausgelaufene Rotweinflasche, sagte ich das bereits? Ein Dreck am Stecken, ein verlustierter, nichts weiter …«
»Sie geben mir also Recht?«
»Naja …, aber dumm und würdelos ist es doch!«
»Das ist kein Einwand. Und im Übrigen bin ich nicht sicher, ob es uns wirklich weiterhilft, dass Sie mir ein Loch in die Brust pochen.«
»Na schön, wie Sie wollen, gehen wir weiter. Dann aber schnell, und lassen Sie uns lieber gleich annehmen, dass die vor uns liegenden Abschnitte von Wiese zu Wiese kleiner und flacher werden, sagen wir: Noch mal so viel, dann haben wir’s geschafft!«
Sein Gekrächze klingt gegen die klamme Stille angeworfen noch schriller als sonst, und sein wutverzerrtes Gesicht wird vom schattenwerfenden Schein der Taschenlampe zusätzlich entstellt. Scharf einatmend wische ich mir die Spucke des Professors aus den Augen, drehe ihm den Rücken zu und sage tonlos:
»Gehen wir.«
»Papa«, Evelyn hängt sich mir hüpfend an den Arm, »könnten wir uns nicht einfach die Wiesen runterrollen lassen? Das Risiko, sich hier im Dunkeln laufend den Knöchel zu brechen, ist doch viel größer als das, gegen eine der paar Linden auf der Wiese zu donnern, oder nicht?«
»Hm. Und die Zäune?«
»Ja, sieben Aufpralle, aber das müssten wir doch überleben – oder heißt es Aufprälle?
»Nein, ich glaub nicht.«
»Was glaubst du nicht, dass es Aufprälle heißt oder dass wir sieben davon über-«
»Beides, und das Wort Aufprall ist dir aus guten Gründen nicht im Plural vertraut. Gehen wir weiter. Geht es, Professor?«
»Ja natürlich, altes Aas, warum denn nicht?«
Wir müssen weitergehen, einfach immer weiter, nicht stehenbleiben, bitte. Evelyn und ich nehmen den Professor in unsere Mitte, stützen ihn unter seinen spitzen Ellenbogen, er flucht leise vor sich und uns hin, was mir ausnahmsweise mehr als recht ist, weil es Evelyn von seiner Angst ablenkt, ja sie tatsächlich bändigt.
Schritt für Schritt, einfach nur wiederholen, was wir schon geschafft haben, so wird sich über Nacht das Unheimliche zum Vertrauten wandeln. Na komm, ein Fuß vor den anderen, mehr ist es nicht, mein Junge . Der Weg ist neu, der Weg ist alt, das macht die Sache leichter, zugleich aber auch schwerer, Kraft der Gewöhnung ist gleich Schwächung durch die Gewohnheit, gutes, gefährliches Nachlassen der Angst. Pass auf! Gib Acht, wo du hintrittst, auch wenn du nichts sehen kannst, Evelyn!
Vorauseilende Erschöpfung, da man, um nicht in den Abgrund des Unbekannten zu starren oder eher ins nächtliche Nichts, so weit in die Ödnis des Immergleichen vorausschauen muss.
Wir sind gerade mal hundert, höchstens hundertfünfzig Meter im zweiten Wiesenkreis hinabgekommen, da spüre ich schon, wie der Professor dicht neben mir den einen Fuß schlampig in der Luft schlackern lässt, während er den anderen zittrig verkrampft auf die rutschige Wiese setzt, und die Tatsache, dass es in dem ganzen Mann, und ich fürchte auch in Evelyn und in mir, schlampig zittert, dass also unser Versuch, einen Ausflug aus den Bergen zu machen, derart schlampig zitternd ausfällt, gibt schwerlich Anlass zur Hoffnung, die allmächtige yogische Homöostasie werde unsere Schieflage schon richten.
Nein, diese ewige Wiederholung des einen kleinen Schritts ist keinesfalls auf dem Weg zu einem ausgeglichenen Gang. Denn für uns
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