Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
schläfrig die letzten köstlichen Züge meiner Zigarette genießt, weiß ich, dass das alles stimmen mag, es aber doch keineswegs der Fall ist. Ich weiß mit absoluter Gewissheit, dass der Grund für mein Unbehagen der ist, dass sich hinter dem von Frau von Hadern Gesagten oder eher hinter meiner Erinnerung an dieses Gesagte etwas ganz anderes verbirgt, und an der Art, wie Referent jetzt mit Daumen und Zeigefinger den kaum noch sichtbaren Stummel an seine Lippen führt und bis zur Glut daran saugt, wird mir klar, dass meine Systemsteuerung vollends außer Rand und Band geraten sein muss und zwei inkompatible Programme nebeneinanderlaufen und vielleicht sogar ineinanderrennen lässt. Und zum ersten Mal seit zwanzig Jahren schließe ich in glücklichem Schmerz die Augen, und in meinem Kopf rauscht das Schwarze Meer.
19.
Langsam kommt der Abend den Berg hinaufgestiegen, die Kellner beginnen mit der Eindeckung, verscheuchen mich mit ihrem vorwurfsvoll geschäftig gesäuselten Nein, nein, bleiben Sie nur sitzen, Herr Doktor! , und so trolle ich mich zurück ins Haus. Die Aussicht, heute nicht am Essen teilnehmen zu müssen, sondern direkt im Kittel hinüber ins Schlaflabor gehen zu können, verstärkt meine gehoben gleichgültige Stimmung. Weil es noch ein bisschen zu früh für das Labor ist und ich auf keinen Fall heute doch noch irgendeiner meiner Pflichten nachkommen will, lasse ich mich noch schnell von meinem notorisch willenlosen Willen beim Professor vorbeibringen, der gerade von Schwester Ariane abendfein gemacht wird.
Gemütlich lehne ich mit vor der Brust gekreuzten Armen im Türrahmen und beobachte schadenfroh, wie Ariane sich damit abquält, dem Professor seine Krawatte zu binden, der nicht eine Sekunde stillhält, sondern mit fuchtelnden Armen auf sie einkrächzt:
»Meine liebe böse Ariane, Sie sind absichtlich auf den armen kleinen Teppich getreten! Sie wollten ihm wehtun! Leugnen Sie’s gar nicht erst! Ich habe Sie beobachtet, ich habe gesehen, welchen Spaß es Ihnen macht, das wehrlose arme Ding zu quälen! Weil ich diesen Teppich liebe, weil er mein Freund ist, und das ertragen Sie nicht, aber ich habe Sie gewarnt, ich habe Ihnen gesagt, Ariane, wenn meinem kleinen Freund auch nur ein Faden gekrümmt wird, mach ich Sie fertig, Sie fettes Stück Dreck, Sie …!«
»Ist gut jetzt, Professor!« Referent angenehm überrascht von uneingeschränkter Autorität seiner Stimme, schiebt Schwester sanft beiseite, nimmt die Sache, also die Enden der Krawatte selbst in die Hand und murmelt dabei freundlich: »Danke, Ariane, Sie können gehen.«
Schwester kann sich augenscheinlich nicht recht entscheiden, ob sie dankbar oder wütend über meine Einmischung sein soll, verrührt daher schließlich beides in einen matschig gekränkten Gesichtsausdruck und verlässt wortlos den Raum. Patient dagegen eindeutig dankbar und erfreut, Referent zu sehen, wedelt dessen Hände weg und bindet sich selbst in Windeseile einen perfekten doppelten Windsorknoten.
»Wie schön, Sie zu sehen, Doktor! Sie gehen also doch mit mir essen, ach, da bin ich aber froh! Jetzt aber husch, husch in den Abendanzug mit Ihnen, alte Satanssonde! Und ich dachte schon, ich müsste wieder mit diesem elenden Schnösel von Pfleger gehen, der mir den ganzen Tag schon mit seiner arroganten Schweigerei auf die Nerven gefallen ist.«
»Es tut mir sehr leid, Professor, aber ich kann auch heute nicht mit Ihnen essen gehen. Im Übrigen wissen Sie so gut wie ich, dass O.W. der mit Abstand angenehmste Pfleger ist. Ich schlage vor, dass Sie sich heute besser benehmen, sonst dürfen Sie wie gestern gar nicht erst raus zum Essen, einverstanden?«
»Oh wie gemein! Wie unfassbar gemein!« Patient reißt sich Krawatte wieder auf und rennt, da er trotz seines Furors peinlich darauf bedacht ist, nicht auf den Teppich zu treten, im Kreis herum. »Jetzt will man mich wieder sub lege stellen, wo alle anderen hier sub natura oder sub gratia leben dürfen, nur ich nicht, und warum? Warum, hm? Hat hier jemand ältere Rechte? Das Verfahren schreit zum Himmel! Gehen Sie wieder mit dieser verhedderten von Hadern essen, hä, Sie elende Nutte?«
»Nein, Professor«, ich stöhne müder auf, als ich tatsächlich bin. »Ich gehe mit niemandem essen, ich muss ins Schlaflabor, mich untersuchen lassen.«
Augenblicklich steht er still, sieht mich in wacher Besorgnis an, und ich bereue sofort, ihm die Wahrheit gesagt zu haben. Nur um von mir abzulenken und seinen drohenden
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