Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Pfleger haben ihn bereits abgenommen und lagern ihn auf ihren Knien. Der eine hält Evelyns Oberkörper im Arm, der andere umfasst seine Beine, was sich hübsch ausnimmt, da Evelyn außer den rotbläulichen Strangulationsmalen an seinem zurückgebogenen Hals nur eine weiße Sportunterhose trägt. Enerviert verdrehe ich die Augen angesichts dieses Spektakels vom ewigen Sohn. An meinem verärgerten Schnaufen erkennt er, dass ich endlich da bin, öffnet seine riesigen dunkelblauen Augen kreisrund, setzt sich ungelenk im Arm des Pflegers auf und lächelt mich schüchtern an. Halb ängstlich, halb prahlerisch sagt er:
»Diesmal war ich nahe dran, Vater, ich hätte es beinahe geschafft.«
»Mhm, ja. Haben Sie nichts Besseres zu tun, Evelyn, als mir tagein tagaus Sorgen zu bereiten? Wie oft soll ich es noch sagen, ich möchte, dass Sie endlich Ihr Studium abschließen, statt ununterbrochen Sperenzchen zu machen. Man sagt ja, wer einen Sohn hat, braucht für die Sorge nicht zu sorgen. Oh ja! Und mich trifft es doppelt hart, ich habe gar keinen Sohn und muss mich doch die ganze Zeit um ihn sorgen.«
»Es tut mir wirklich leid, Papa.«
»Sie sind doch keine fünf mehr, Sie sind erwachsen, mein Junge, Sie können sich nicht mehr an die Türklinken hängen, wann immer es Ihnen Spaß macht.«
»Ich wollte doch nur, dass du einmal stolz auf mich sein kannst, Papa. Und diesmal war ich wirklich nahe dran, wirklich, eine Sekunde länger und …«
»Jaja, schon gut.«
»Ich war so verzweifelt wegen meiner verfluchten Sündigkeit«, er hüpft den beiden Pflegern von den Schößen und stellt sich händeringend vor mich, und ich kann nicht anders, als ihm übers Haar und über die blassen Wangen zu streichen, während er mit zitternder Stimme weiterspricht: »Ich wusste nicht mehr, wohin mit mir. Weißt du, ich habe es wieder getan, ich habe mir wieder gewünscht, Schwester Absenta nackt zu sehen, und um diesen bösen Wunsch zu verscheuchen, habe ich mir gesagt: Wenn dein böser, schmutziger Wunsch wahr würde, müsste dein Vater sterben.«
»Jaja, schon gut.«
»Und dann habe ich die Schwester sich ausziehen lassen, und wie sie da so vor mir stand, ganz nackt, da hab ich mir gesagt: Das ist doch großartig, dafür könnte man seinen Vater ermorden!«
»Wie oft soll ich es noch sagen: Die Schwestern sind tabu, ta-bu! Ist das so schwer zu verstehen? Herrgott, ich verstehe nicht, was daran so schwer zu ver-«
»Ja ich weiß, ich weiß, ich hab sie sich ja auch nur ganz kurz ausziehen lassen, nur eine Sekunde, ich schwöre, Papa, aber das Schreckliche ist, dass schon diese Sündensekunde, oder soll ich sagen Sekundensünde, ausgereicht hat, um dem Teufel zu sagen, dass du tot bist, er weiß jetzt Bescheid, und nun muss mein armer Vater sterben, durch meine Hand, oder vielmehr durch meine Augen, durch meine bösen, bösen Augen.«
»Ihr Vater ist tot, Evelyn, Sie können ihn nicht umbringen.«
»Nein, nein, nein, das kann ich nicht glauben, Papa. Weißt du, jedes Mal, wenn mir jemand einen guten Witz erzählt, denke ich: Das muss ich dem Vater erzählen!«
»Ja, das sind ganz verständliche Reflexe, wir haben das doch alles bearbeitet und …«
»Aber wenn ich dir den Witz dann erzählen will, dann bist du nie da! Nie kümmerst du dich um mich! Und dann kommt es wieder über mich, ich werde so wütend, und um es wegzumachen, denke ich die ganze Zeit Gott schütze dich, Papa, doch etwas in mir flüstert dann immer hinzu: nicht ! Gott schütze dich … nicht! Ich will es abstellen, indem ich versuche, schneller zu sein und in meinem Rosenkranz von Gott-schütze-dich-Papas keine Lücke zu lassen für den Teufel, so schnell zu sprechen, dass er mit seinem nicht gar nicht dazwischen kommt, aber es gelingt mir nicht, wie schnell ich auch bin, Papa Gott, Papa Gott, Papa Gott, Pagott, Pagott, Pagott, er spricht schneller als ich, und dann …«
»Ist gut. Das hatten wir doch alles schon. Diese Stimmen sind jenseits mediatorischer Zugriffe, ich kann da nichts machen, sie sind autogenerativ. Aber sie haben nichts mit Ihnen zu tun, man muss sie sich selbst überlassen und …«
»Nein nein, es ist ein Wunsch, das nicht ist ein böser Wunsch, ich weiß es genau! Ich wünsche mir heimlich, dass du …«
»Unsinn, hören Sie jetzt endlich auf mit diesem dummen alten Aberglauben! Sie haben keine bösen Wünsche, verstanden? Und fest steht – sehen Sie mich an, Evelyn, machen Sie die Augen auf, verdammt – fest steht: Sie können Ihren
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