Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
er:
»Setzen Sie sich doch, von Stern. Ich brauch doch noch ein paar Minuten, aber dann könnten wir ja eine rauchen gehen.«
»Oh ja, gern«, dankbar lasse ich mich auf den Ablagestuhl neben der Tür sinken. »Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden.«
»Ich weiß.«
Er grinst mich kurz an und wendet sich dann wieder seinem Patienten zu, nimmt Zimmermanns Gesicht in beide Hände und schüttelt es sanft:
»Mein lieber Zimmermann, Sie gefallen mir gar nicht. Was ist denn los, hm? Was fehlt Ihnen denn nur?«
»Ach ich weiß auch nicht, Herr Doktor. Ob es eine unerfüllte Sehnsucht ist, die einen Menschen wahnsinnig macht?«
»Tja, unwahrscheinlich, aber ausschließen will ich das nicht. Können wir ja mal nachschauen, wo wir schon dabei sind. So, den Arm mal bitte … hmhm, haben Sie das Zeug da unterm Arm schon länger?«
»Schon eine ganze Weile, ja, ein paar Jahre, glaube ich.«
»Hm, das ist ja nicht sehr schön anzuschauen und doch sicher auch unbequem, das machen wir mal lieber weg, wie?«
»Wenn Sie meinen … Obschon so ein Faltenwurf auch ein recht gutes Mittel gegen die Angst ist.«
»Wie meinen Sie das?«
»Naja, eine Bannformel in Gebärdenform, also vielmehr in Scheingebärdenform, es sieht ja nur so aus als machte man eine pathetische Gebärde, man ist ja ganz steif und starr, rührt sich nicht mehr, aber der Faltenwurf ist eine Bewegungsmimikry, man tut so, als ginge es immer noch weiter, als könnte man sich noch bewegen, während man paralysiert dasteht. Und so hofft man, dass die Angst sich von diesem fließenden Schwung täuschen lässt und an einem vorübergeht. Das hat doch etwas Erhabenes, die Natur so mit ihren eigenen Mitteln auszutricksen, finden Sie nicht?«
»Tja«, Holm zupft mit der Pinzette in Zimmermanns Achsel und an seinem schlaffen Trizeps herum. »Kann ich nicht sehen, ehrlich gesagt.«
»Schauen Sie«, Zimmermann schnauft etwas hilflos, bevor er weiterspricht: »Denken Sie zum Beispiel an Lawrence von Arabien in seinem weißen Wüstengewand. Schauen Sie sich das weiße Tuch an, das auf seinem Kopf zu einem tief ins Gesicht gezogenen Beduinenschleier gefaltet ist, der über der Stirn mit zwei Bändern befestigt ist, die mit auffallend britisch anmutenden Pompons verziert sind. Dieser Beduinenschleier umrahmt sein ganzes Gesicht, unter seinem Kinn ist er einmal locker gekreuzt nach hinten geschlagen, bedeckt so seine Schultern und fließt schließlich als Umhang hinunter bis zu seinen Knöcheln. Und nun rufen Sie sich sein eigentliches Gewand in Erinnerung. Lassen Sie sich dabei nicht von dem hübschen, reich, aber zugleich schlicht ornamentierten Krummdolch ablenken, dieser Totemschlange, die in der Mitte seines breiten Gürtels steckt, sondern achten Sie auf den Gürtel selbst, wie er ihm eng um die Taille geschnallt ist, durch und durch arabisch, römisch, griechisch, kalifornisch, und der wie bei Liz Taylors Kleopatragewand erst den Wasserfall der Falten seines Kleides hervorzaubert. Dieser Faltenfluss an seinem Körper herab wird wiederum gerahmt und gehalten vom Oval seiner Arme, das sich in der scheinheiligen, vielleicht aber auch heiligenscheinigen Faltung seiner Hände vor dem Geschlecht schließt, eine Geste, die ganz nebenbei, in aller Bescheidenheit das katholisch luxuriöse Ausmaß seiner Trompetenärmel und ihre messianische Querfaltung zur Schau stellt. Schauen Sie also, welch ausgeklügeltes Faltenspiel nötig ist für die strenge Anmutung einer solchen Obermönchskutte! Was für ein herrliches Täuschungsmanöver der Mann gegen seine Amygdala aufgefahren hat! Aber das ist noch längst nicht alles, denn nun sehen Sie noch einmal genauer hin, und dann erkennen Sie, dass er gar kein Wüstengewand trägt, sondern einen Astronautenanzug. Denn eigentlich war Lawrence Astronaut, jawohl, Lawrence of Arabia war der erste Mann im Mond, aber noch eigentlicher, schauen Sie hin, ist er ein Schneeaffe, Sie müssen nur immer genauer hinschauen!«
»Tja«, Holm kratzt sich, noch immer unter Zimmermanns Achsel starrend, am Hinterkopf, »ich weiß nicht recht …«
»Ach, was red ich«, Zimmermann lässt den Kopf auf die Brust sacken, während Holm ihm nun auch den anderen Arm hochhält, und leise und plötzlich kraftlos spricht er weiter: »Vor allem muss ich in letzter Zeit immer an die Falten zwischen den Beinen meiner Frau denken, an damals, als wir jung waren, und das macht mich irgendwie traurig, dass alles so vergangen ist, einfach so …«
»Na, das geht
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