Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
nachgedacht, und das wissen Sie auch, sonst würden Sie mich ja nicht danach fragen.«
»Richtig. Und genauso wenig haben Sie jemals darüber nachgedacht, wissen es noch nicht mal, dass die Zahl der weltweiten NPT im Jahr der Erstunterzeichnung des NPT rasant in die Höhe gestiegen ist.«
»Und? Zufall, weiter nichts, und noch dazu ein regional erbärmlich begrenzter, die beiden Abkürzungen sprechen ja noch nicht einmal dieselbe Sprache.«
»Ja, das stimmt«, er stützt einen schwarzen Arm direkt neben meinem Kopf auf, stemmt die Hand des anderen Arms in die Seite und blickt sinnierend zum unsichtbaren Glashimmel hinauf. »Stimmt vollkommen, aber trotzdem eine interessante Koinzidenz, finden Sie nicht?«
»Hm.«
»Sind Sie endlich wieder müde?«
»Nein, bin ich nicht, Dankevicz, das wissen Sie doch.«
»Nein, das weiß ich nicht, kann ja nicht alles wissen. Was machen wir mit dem Söhnchen?« Über meinen Kopf hinweg richtet er sein Kinn wie eine Taschenlampe auf Evelyn, den ich zu meinem Erstaunen ganz vergessen hatte, doch Dankeviczs Frage gilt nicht mir, sondern seinem Wachpfleger, der mit auf dem Rücken gefalteten Händen zwischen unseren Betten steht. »Was meinen Sie, Charon?«
Da derlei Fragen an Pfleger lediglich rhetorischer Natur sind, muss ich ihm nicht zuvorkommen und kann trotz Evelyns ängstlich drängendem Blick die Frage ohne jede Hast an mich nehmen:
»Den Jungen lassen wir ungeschoren, Dankevicz. Er ist nur zu meiner Begleitung hier, lassen Sie ihn einfach schlafen.«
»Noch nicht mal grob überfliegen, nein? Na schön, wie Sie meinen, von Stern – Ihr Patient, Ihr Fall«, generös nimmt er die mächtigen Arme hoch, zeigt mir seine hellrosa Handinnenflächen und wirft dann die Decke wieder über mich. »Aber dann wollen wir das Flughündchen mal endlich zu Ihnen herabflattern lassen, sonst haben wir gleich die Nacht zum Tage gemacht, und das ganz ohne jedes Vergnügen.«
»Ich finde ja immer«, ich strecke mich genüsslich gegen den Widerstand all der Gerätschaften am Leib wieder in die Länge und verschränke gähnend die Arme hinterm Kopf, »der Scanner sieht eher aus wie ein Rochen. Also das ist jedenfalls das Bild von ihm, das mir immer vor den Augen schwebt oder schwimmt oder wie soll ich sagen …«
»Tja, Sie haben’s eben mit dem Meer, von Stern. Mit dem Meer haben Sie Heimlichkeiten«, er zwinkert mir spöttisch zu, drückt dann wahllos auf der symbolischen Fernsteuerung herum, um den Teilchenscanner über mir herabfahren zu lassen und säuselt dabei träumerisch: » Heimlich, Heinrich, mit dem Meere sprich, heimlich, heimlich mich vergiss … Jaja, ein altes Lied, ein besseres Lied. Apropos – Charon, sing dem Söhnchen vom Doktor was zum Einschlafen!«
Der silberne Rochen sinkt in der Zeitlupenlangsamkeit seines flügellosen Schlags zu mir herab, und Charon singt mit dem schönen Bariton des altgedienten Wachpflegers:
Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
22.
»Papa?«
»Mhm.«
»Papa, schläfst du?«
»Mhm.«
»Papa, du kannst doch gar nicht schlafen! Bitte nicht schlafen, hörst du?«
»Herrgott, Evelyn«, von meiner Stimme ist nur eine Schleifspur übriggeblieben. »Was ist denn?«
»Ich habe Angst, Papa!«
Von Satz zu Satz ist sein Flüstern leiser geworden, was es noch drängender macht, und so versuche ich die Augen zu öffnen, aber es gelingt mir nicht. Ersatzweise wende ich Evelyn die friedliche Totenmaske meines Gesichts zu und schmatze ein paarmal lahm, um die fette Schnecke in meinem Mund in eine Zunge zurückzuverwandeln.
»Sie brauchen keine Angst zu haben, Evelyn, ich bin ja bei Ihnen.«
Zur Antwort schweigt er verletzt, es gelingt mir endlich die Augen aufzumachen und ich blicke in Evelyns tapfer gequältes Gesicht.
»Entschuldigen Sie, mein Junge, das war ein gemeiner Spaß.«
»Ja, das war gemein, wirklich gemein.«
»Jaja, sag ich doch, Entschuldigung! Wollen wir’s auch nicht übertreiben. Und tatsächlich brauchen Sie keine Angst zu haben, der Teil war ja kein Spaß.«
»Aber«, er schielt kurz in Richtung der beiden Männer uns gegenüber und flüstert jetzt so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann, »die beiden da sind wach, und sie beobachten uns die ganze Zeit.«
»Und? Natürlich beobachten sie uns, dafür sind sie ja da. Oder meinen Sie, die Dorftrottel da will irgendjemand wirklich
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