Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
irgendetwas abrufe«, sagte ich leise und gedehnt, wodurch Esther hellhörig wurde, endlich wieder ihre Augen öffnete, mich ansah und sich aufsetzte, sodass ich mich, auch wenn sie mich weiter skeptisch maß, doch wieder mit ihr verbunden fühlte, und kräftiger fuhr ich fort: »Aber lassen wir doch die Lehrsätze und kehren zu deinen Befunden zurück. Aus der Tatsache, dass ich das Wort Haus sehe und dann eine Taste drücke, weil ich erkenne, dass man mir dieses Wort vor einer halben Stunde schon mal gezeigt hat, schließt du also, dass eine episodische Erinnerung vorliegt? Du möchtest aus der neuronalen Aktivität, die mit diesem Tastendruck korreliert, eine mentale Repräsentation von Erinnerung gewonnen haben, richtig?«
»Ja genau, es handelt sich schließlich klarerweise um einen auf die Vergangenheit bezogenen kognitiven Akt. Denn wir haben gelernt, unsere kognitiven Leistungen temporal zu unterscheiden in, erstens: Prozesse, die sich auf die Gegenwart beziehen, das sind also Perzeption und Vorstellung; zweitens: Prozesse, die sich auf die Vergangenheit beziehen, also Gedächtnisleistungen, und drittens: Prozesse, die sich auf die Zukunft beziehen, also Intentionen und Aktionen, und –«
»Wenn ich dir jetzt eine Ohrfeige gebe«, fragte Esther freundlich, »ist das ein auf die Zukunft bezogener kognitiver Akt?«
»Was? Tickst du nicht –«
»Alles«, fuhr ich hastig dazwischen und sah dazu nur den Jungen und nicht Esther an, »was du auf diesen Bildern allenfalls sehen kannst, und auch das kannst du nur klar sehen, weil du es schon weißt, ist, dass der Mann schwer depressiv ist. Es ist der alte Hoffmann, habe ich recht?«
»Äh … ja, woher …?«
»Der Ärmste muss immer herhalten für die Anfänger, vor fünf Jahren hab ich ihn schon traktiert mit Bildern von zähnefletschenden Hunden und grinsenden Babys. Dass seine Amygdala derart aktiv, oder genauer gesagt, gut durchblutet ist, ganz gleich, ob er Worte grade wiedererkennt oder für neu hält, hat nichts mit seiner Erinnerung zu tun, jedenfalls nicht, dass wir’s wüssten, sondern damit, dass er nun mal depressiv ist. Seltsamerweise heitert es ihn noch nicht einmal auf, dass er als dauerbevorzugter Proband jeden Tag verkabelt, in Röhren geschoben wird und irgendwelche Tasten drücken darf. Und auch dass er depressiv ist, könnten uns diese Bilder nicht klar sagen, wenn er es uns nicht gesagt hätte, dazu sind die Bilder von Depressiven viel zu widersprüchlich, viele zeigen im Gegensatz zu ihm gar keine Abnahme der orbitofrontalen Aktivität, sondern eher eine Zunahme. Aber zum Glück wissen wir auch ohne diese Bilder, dass der Mann seit zwanzig Jahren nachts heult und schreit, an sich aufreißt, was man nur so an sich aufreißen kann und einen katastrophalen Serotoninspiegel hat. Gleichzeitig ist er sehr umgänglich, gibt bei der Standardbefragung zum Inventar depressiver Symptome bereitwillig und tränenreich Auskunft über sich, leistet jedes Jahr eine wirklich anständige Inventur seiner selbst und hat die Regale stets voll mit allem, was das schwere Herz begehrt.«
»Aber … aber«, der Junge wurde laut, und sein Kollege, der die ganze Zeit vor sich hingedämmert hatte, wachte ruckartig auf und schmatzte ein paarmal verschlafen, »du hast doch gesagt, ich hätte alles richtig gemacht! Worum geht’s hier, mich in einen Hinterhalt zu locken?«
»Nein, überhaupt nicht, reg dich ab, es ist ja auch alles richtig, du kannst so weitermachen, genau so weiter bis zum Schluss … Du musst nur genauer werden, immer genauer, und das wirst du schon mit der Zeit.«
»Ja gut, es gibt da ein paar Unschärfen, aber das ist doch kein Grund, mich hier so auseinander –«
»Nein, das ist es wirklich nicht, vollkommen richtig. Hast du eure Ergebnisse schon eurem Führungsarzt gezeigt?«
»Ja, er hat schon mal flüchtig draufgeguckt, findet die Leistung meiner Gruppe prinzipiell beachtlich, sagt aber, das müsse alles noch genauer werden, kleinere Einheiten, lückenlosere Hirnpotentiale und vor allem noch genauere Korrelationen …«
»Genau, einfach noch genauer werden. Na, dann ist doch alles gut. Mach einfach weiter so!«
»Sag mal, willst du mich verarschen?«
»Nein, gar nicht, du bist auf dem richtigen Weg, kein langer geschwungener Weg, sondern der richtige, geradeaus«, alle drei sahen mich verständnislos an, und um sie wieder von mir abzulenken, fragte ich Esther: »Deine Gruppe hat doch sicher auch an Hoffmann laboriert, oder
Weitere Kostenlose Bücher