Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
nicht?«
»Wenn man das so nennen will, ja. Ich habe die gleichen Bilder von ihm gemacht. Und mich ein bisschen mit ihm unterhalten.«
»Ah ja? Die sentimentalen Nerven hatte ich nie. Und, würdest du sagen, dass er melancholisch memorable Neigungen hat?«
»Ja und nein. Ich war ein paarmal abends bei ihm, er lag im Bett, hat sich ein bisschen die Finger blutig gerissen, aber recht sanft für seine Verhältnisse, fast gemütlich, und mir träumerisch erzählt, wie er vor vierzig Jahren seine Frau kennengelernt hat, und es schien nicht so, als litte er dabei, er schien seine Erinnerung eher zu genießen. Nur …«
»Was?«
Sie beugte sich nahe zu mir vor und sah mir abwechselnd ins linke und ins rechte Auge, als suche sie darin die Antwort:
»Nur ist dummerweise nichts von all dem, was er erzählt, tatsächlich passiert, oder jedenfalls nicht so, wie er es erzählt.«
»Er konfabuliert?«
»Es scheint so, jedenfalls war er nie verheiratet, wie seine Akte weiß. Und er zeigt auch sonst deutliche Symptome einer schweren Abrufstörung.«
»Wie zum Beispiel?«
»Ich habe ihm das Märchen von den Sterntalern vorgelesen und ihn anschließend gebeten, es mir wiederzuerzählen. Und das ist, was er sagte«, sie holte ein winziges Diktiergerät aus ihrer Tasche, drückte die Playtaste, und ich sah seine blutenden Fingerkuppen vor mir, als ich die brüchige Stimme von Hoffmann hörte:
»Ja natürlich, ich erinnere mich, es ging um diese schwere Krise von Millie. Wir waren seit drei Jahren verheiratet und meine Mutter drangsalierte uns noch immer wegen der Wohnung, wir hatten ja noch immer keine eigene Wohnung, und so hatte sie leichtes Spiel. Da ist Millie irgendwann kurzentschlossen zur Bank gegangen und hat dem netten Kassierer, Herrn Bürgel, unsere Lage erklärt. Herr Bürgel war sehr verständnisvoll, er hat es sich alles andere als leicht gemacht, aber dann sagte er nach langer Überlegung: ›Sehen Sie, ich würde Ihnen gern helfen, und vielleicht könnte ich es sogar, denn die Bank ist der Arzt und das Geld ist die Medizin. Aber der Patient muss sein Leben ändern. Und ich weiß nicht, ob Sie das wirklich können.‹ Da war Millie so verzweifelt, dass sie nicht zu mir nach Haus kam, sondern die ganze Nacht in ihrem dünnen Hemd durch die Stadt geirrt ist.«
Esther drückte die Stopptaste, sah mich erwartungsvoll an.
»Und?«
Ich fing an zu schwitzen.
»Was, und?«
»Ähm, wenn ich vielleicht …«, der zweite Junge rieb sich noch einmal die Augen, räusperte sich und hatte sich damit anscheinend hinreichend von den Segnungen des Sandmännchens befreit. »Ich bin jetzt nicht ganz sicher, vielleicht habt ihr das ja schon grad äh …, aber interessanterweise sind die neuronalen Korrelate von Konfabulationen, also von krankhaft erfundenen Erinnerungen, gar nicht von denen tatsächlich erlebter Gedächtnisinhalte zu unterscheiden, genau wie Halluzinationen ja aus Sicht des Gehirns das Gleiche sind, wie wenn man etwas wirklich sieht, und –«
» Und das haben wir gewusst. «
Ich lächelte ihn freundlich an, und verwirrt lächelte er zurück:
»Ja genau, wir versuchen halt mit immer neuen bildgebenden Verfahren das, was wir schon wissen, zu bestätigen.«
»Ich hör mir das nicht länger an«, Esther sprang auf, und als ich sie am Knöchel festhielt, schrie sie mich an: »Warum machst du das alles mit? Bist du so ein Arschloch oder einfach nur ein Idiot?«
»Setz dich wieder hin, bitte. Bitte! Darf ich’s erklären?« Sie setzte sich und sah wütend an mir vorbei. »Ich mache all das mit, wie du sagst, weil ich glaube, dass es keinen anderen Weg gibt, um an bessere Bilder von uns zu gelangen. Die Probleme, die wir mit den derzeitigen bildgebenden Verfahren haben, das sind Übergangsprobleme. Natürlich, es sind nicht bloß technische Schwierigkeiten, aber eben Probleme des Übergangs. Es wird andere Bilder geben, Bilder, die nicht einfach nur exakter sind als diese hier«, ich schlug verächtlich mit der Rückhand auf die PET- und fMRT-Bilder, »die, selbst wenn sie irgendwann exakter sein mögen, immer falsch bleiben werden, weil sie bloß Bilder von Bildern von Bildern sind. Aber wenn die paradiesisch künstlichen Korrelationsriffe in unseren Hirnmeeren irgendwann abgebaut sein werden, dann wird es andere Bilder geben, Bilder, die uns nicht mehr vorgaukeln, irgendetwas abzubilden, sondern Bilder, die so vollkommen abstrakt sein werden, dass man wirklich lernen muss, sie zu lesen, vollkommen wörtliche
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