Heimlich

Schulen hätten eine Reputation zu verteidigen, und bevor das Semester begann, wollte er sich überzeugen, daß Marcella intelligent und tüchtig genug sei, um den Lehrplan zu packen. Vielleicht könnten sie sich auf privater Basis besser kennenlernen, er könnte sie behutsam über ihre geistigen Fähigkeiten ausfragen und sich überzeugen, daß sie den Anforderungen an der Fletcher School of Nursing gerecht würde. Ob das wohl möglich wäre? Marcella lächelte in der Erwartung, mitzuspielen.
    »Natürlich«, sagte sie.
    Marcella spielte bestens mit. Ihre schulischen Leistungen waren so überragend und ihr Einfluß auf Willard Fletcher so vollständig, daß sie nach drei Semestern ihren Wohltäter und Liebhaber so weit brachte, sämtliche Zeugnisse bis zurück in die erste Klasse einer Grundschule in der Bronx zu fälschen.
    Mit ihrem gefälschten Zeugnis in der Hand bewarb sie sich an der Krankenschwesternschule der New York University, wo sie umgehend aufgenommen wurde. Sie blieb die offizielle Mätresse von Willard Fletcher, bis sie sich an der New York University gut eingerichtet hatte. Dann ließ sie ihn wie eine heiße Kartoffel fallen, indem sie ihm im Festsaal eines großen Hotels in Atlantic City, wo sie einer Tagung des medizinischen Geräte-Großhandels beiwohnten, eine fürchterliche Szene machte.
    Marcella bekam ihr Schwesternhäubchen im Juni 1931. Johnny schloß die Pharmazie-Schule ein Jahr später ab. Mit akademischen Auszeichnungen und einer Kodein-Abhängigkeit.
    Die Wirtschaftskrise war auf ihrem Höhepunkt, und ihnen war das Geld ausgegangen, das sie zuvor leichtfertig verschwendet hatten. Marcella dachte wieder über ihre Möglichkeiten nach: das Medizinstudium kam jetzt nicht mehr in Frage. Das Geld war zu knapp. Sie nahm einen Job im Bellevue Hospital an, wo sie hoffnungslose Fälle zusammenflicken half, die auf die Unfallstation eingeliefert wurden. Johnny arbeitete in der Krankenhaus-Apotheke, wo er für die geisteskranken Patienten Beruhigungsmittel mixte, die ihnen auf harmlose Weise Vergessen schenkten. Er selbst vergaß in seiner Freizeit auch alles um sich herum, aber auf weniger harmlose Weise - der einstmals sanfte Riese war jetzt zwei Meter zehn groß und ein gefürchteter Kneipenrowdy geworden. Marcella boxte ihn laufend aus dem Gefängnis, dann nahm sie ihn mit nach Hause, in ihre Wohnung in Brooklyn Heights, wo sie ihm den verwüsteten Kopf streichelte und er nach seinem toten Vater wimmerte.

    Als am 7. Dezember 1941 Pearl Harbor bombardiert wurde, war Will Berglund ein 29jähriger Englischlehrer an der Universität von Wisconsin in Madison, Marcella DeVries war Oberschwester in einem katholischen Krankenhaus auf Staten Island, und Johnny DeVries war New Yorks führender Kodein-Händler.
    Der Krieg förderte auch in diesen so verschiedenen Individuen dieselbe Welle von Patriotismus zutage, die Millionen anderer Amerikaner erfaßt hatte. Will ging zur Armee, wurde Offizier und in den Pazifik geschickt. Seine militärische Karriere war schnell zu Ende: Seine beiden Unterschenkel hatten Granatwerferfeuer abbekommen, und er kam nach Hause ins Marinekrankenhaus in San Diego, Kalifornien, wo er sich mehreren Operationen und langwieriger Behandlung unterziehen mußte, die das beschädigte Nervengewebe wiederherstellten.
    In jenem Krankenhaus trafen er und Marcella wieder zusammen, sie inzwischen ein dreißigjähriger Marine-Leutnant. Die Ereignisse der letzten fünfzehn Jahre wurden beiseite geschoben. Will liebte Marcella in ihrer weißen Uniform jetzt so heftig wie damals, als sie die Gingham-Kleider ihrer Kindheit getragen hatte. Die Zeit, der Ort und der Wunsch nach Heilung ließ sie das blutige Familiendrama von Tunnel City vergessen, und Marcella und Will liebten sich wieder; das Wechseln der Verbände und das Leeren der Bettpfannen verwandelte sich in ein mitternächtliches Liebesritual, das sie beide reinigte und heilte. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnten sie den gemeinsamen bösen Kleinstadt-Geist verbannen.
    Johnny DeVries machte das Triumvirat in San Diego komplett. Als Sanitätsmaat der Marine arbeitete er in der Krankenhaus-Apotheke und versorgte die Schiffe, die im Marinehafen von San Diego vor Anker lagen, mit Beruhigungsmitteln und verdiente sich ein Zubrot, indem er Marihuana aus Tijuana über die Grenze schaffte. Johnny hatte seinen Drogenkonsum eingeschränkt, er war vom Kodein auf Marihuana umgestiegen, und sein gewalttätiges Benehmen ließ auch nach. Der 2,10