Heimlich
wurde Marcella jetzt zum Wohltäter, Ratgeber, Lehrer und Arzt des ziellosen Riesen. Als Folge ihres Verlustes klammerte sie sich heftig an ihren Bruder. Sie lehrte den wachen, aber faulen Jungen so unterschiedliche Fächer wie Geometrie und Dichtung, mittelalterliche Geschichte und Integralrechnung. Sie erweckte viele Fähigkeiten in ihm, von deren Existenz er noch nicht gewußt hatte und förderte so sein Bestes zutage.
Die neue DeVries-Bande hatte einen Traum; einen Traum, der Marcellas elitäre Verachtung und Johnnys Liebe zu den Tieren ausdrückte: die Medizin. Marcella, die Ärztin, die Mikrobenjägerin befaßte sich mit der »reinen Forschung«, und Johnny, der Tierarzt, umgab sich liebevoll mit Findlingen und streunenden Tieren, die Heilung suchten. Es war ein gewaltiger Traum, einer, der sie weit über die engen, verhaßten Grenzen von Tunnel City, Wisconsin trug. Aber zuerst mußte sich Marcella noch an der Stadt rächen.
Im Juni 1928 erhielt sie - sechzehnjährig - ihr Abschlußdiplom von der Tunnel City High-School. Sie war die Jüngste in ihrer Klasse. Piet war sehr stolz. Mai, die immer noch getrennt von ihrer Familie lebte, kam auf Piets Drängen aus Lake Geneva, um die Tochter, die sie haßte, auf der Bühne der Aula in ihrem Abschlußgewand verächtlich lächeln zu sehen, als ihre akademischen Leistungen mit kleinstädtischer Übertreibung gepriesen wurden. Nach der Zeremonie fuhr Mai nach Lake Geneva zurück und sah ihre Familie nie wieder.
Mit dem Abschlußdiplom in der Hand, machte Marcella sich an die Arbeit. Sie besaß dreiundachtzig Briefe von Will. Am Montag nach der Abschlußfeier überlegte Marcella stundenlang, wer die einzelnen Briefe erhalten sollte, um größtmögliche Beleidigung und Schaden anzurichten. Als sie fertig war, machte sie sich auf den Weg. Die Main Street war zuerst dran. Marcella ließ kleine Giftpäckchen beim Bürgermeister, bei Stadträten, beim Bibliothekar, beim Sheriff, beim Frisör und bei jedem Geschäftsmann von Tunnel City liegen.
»Lesen Sie das«, sagte sie zu jedem Empfänger. »Vielleicht erkennen Sie ein paar Ihrer Freunde wieder.«
Als nächstes kamen die Kirchen dran: die Holländisch-Reformierte, die katholische, die Presbyterianer und die Baptisten, sie alle erhielten Botschaften des Hasses, die so zugeschnitten waren, daß sie sowohl auf der Ebene des Glaubens als auch auf der der Eingeweide ihre Wirkung taten.
Marcella zog dann nach einem ausgeklügelten Plan durch die Wohnstraßen von Tunnel City, bis ihre braune Papiertüte leer war. Dann ging sie heim und sagte ihrem Bruder, er solle seine Sachen packen, sie würden bald aufbrechen, um ihren Traum zu verwirklichen.
Ihr Abschied verzögerte sich. Marcella nahm sich vor, zwei Tage zu warten, um die ersten Wellen der Reaktion und des Schocks in der Stadt zu genießen. Dann würde sie den Juwelenschatz ihres Vaters stehlen und mit Johnny nach New York gehen.
Sie grub sich in ihrem Schlafzimmer ein, las Baudelaire und blätterte in Katalogen von Colleges an der Ostküste. Am Dienstag abend hörte sie ihren Vater in seinem Schlafzimmer weinen. Das bedeutete, daß er Bescheid wußte.
Marcella wollte ein letztes Mal durch die Kohlfelder Spazierengehen. Sie hüpfte die staubige Straße hinunter, die die beiden Farmen trennten. Willem Berglund wartete schon. Er war stocknüchtern und hatte ein Rasiermesser dabei. Er packte Marcella, warf sie zu Boden und vergewaltigte sie, das Rasiermesser an ihrer Kehle. Als er dann fertig war, lag er auf ihr, starrte mit zusammengepreßten Zähnen in den Himmel und gab keinen Laut von sich. Als er wieder Luft bekam, stand Willem auf und urinierte auf Marcellas ausgestreckten Körper. Dann ging er zurück in die Dunkelheit seiner Kornfelder.
Marcella lag eine Stunde lang da, dann humpelte sie nach Hause. Sie zwang sich zu weinen. Ihr Vater war noch auf und fiedelte auf seiner Geige. Marcella erzählte ihm, was geschehen war, dann ging sie ins Bett. Piet nicht. Er blieb die ganze Nacht auf, spielte die Symphonien von Beethoven in chronologischer Folge auf seinem Grammophon und übte die schwierigsten Passagen der Kreutzer-Sonate auf seiner Geige ein.
Am Morgen, als Marcella und Johnny noch schliefen, ging Piet zum Haus eines seiner Arbeiter und lieh sich ein doppelläufiges Jagdgewehr. Schädlinge, sagte Piet. Der Mann gab seinem Chef das Gewehr samt Patronen und wünschte ihm alles Gute. Piet ging dann zum Haus der Berglunds, das geladene Gewehr in seiner
Weitere Kostenlose Bücher