Heimlich
Meter große Schläger gab sich jetzt damit zufrieden, seine Abende mit Marcella und Will in ihrer Wohnung in Coronado Bay zu verbringen.
Marcella und Will unterhielten sich, und Will wälzte sich mutig durch das Wohnzimmer, um seine Beine zu kräftigen, an denen er Klammern trug. Johnny rauchte Gras in seinem Schlafzimmer und hörte Glen-Miller-Platten.
Das fröhliche Trio blieb bis zum Frühjahr 1943 zusammen, als Marcella den Mann traf, der ihre Illusionen und ihr Leben erschüttern sollte.
»Wenn er ging und sprach, wußtest du, daß er Bescheid wußte ; daß er alle dunklen Geheimnisse des Lebens kannte - auf der Ebene des Instinkts - wie ein hochsensibles Tier, das den Menschen überlegen ist«, schrieb Marcella Jahre später an Will. »Er ist der bestaussehende Mann, den ich je getroffen habe; und das weiß er und er weiß, daß du das weißt - und er schätzt dich wegen deines guten Geschmacks und behandelt dich ebenbürtig, weil du wissen willst, was er weiß.«
Marcellas Vernarrtheit und Neugierde riß sie fort, und drei Tage nachdem sie Doc Harris getroffen hatte, sagte sie zu Will: »Ich kann nicht bei dir bleiben. Ich habe einen Mann getroffen, den ich will, ganz ausschließlich.« Es war brutal und endgültig. Will, der gewußt hatte, daß Marcella eines Tages weiterziehen würde, gab sich damit zufrieden. Er zog aus der Wohnung aus und wieder ins Krankenhaus. Eine Woche später wurde er entlassen und fuhr heim nach Wisconsin.
Doc Harris war ein Genie, stellte Marcella fest. Er war ihr gedanklich immer zwei Schritte voraus, und sie selbst grenzte natürlich an Genialität. Er beherrschte fünf Sprachen, verglichen mit ihren drei, er wußte mehr über Medizin als sie, er konnte sie unter den Tisch trinken und sich nichts anmerken lassen, er konnte tanzen wie Gene Kelly, und mit fünfundvierzig konnte er hundert einhändige Liegestützen machen. Er war ein Gott. Zu Jack Dempseys Zeiten hatte er neunundzwanzig Kämpfe als Halbschwergewichts-Profi gewonnen. Er konnte die Sitten in der Kleinstadt besser verspotten als sie und Will in Höchstform, und er konnte chinesisch kochen.
Und er war rätselhaft, mit voller Absicht. »Ich bin ein wandelnder Euphemismus«, sagte er zu Marcella. »Wenn ich dir sage, ich hätte einen Chauffeur-Verleih, dann kann das die Wahrheit sein, aber auch nicht. Wenn ich dir sage, ich benutze mein medizinisches Wissen, um der Menschheit zu nützen, dann hast du ein Rätsel. Wenn du dich über meine Beziehungen zu den Einflußreichen hier in San Diego wunderst, überleg mal, was ich für die tun kann, was die nicht selbst können.«
In Marcellas Gedanken gab es viele Möglichkeiten, was ihren Liebhaber anbetraf: er war ein Gangster, ein ranghoher Marine-Deserteur, ein Geldkurier, der sein Leben dem anonymen Guten widmete. Keine Erklärung befriedigte sie, und sie dachte ununterbrochen über die wirklich wahren Dinge nach, die sie von dem Mann wußte, der jetzt ihr Leben beherrschte. Sie wußte, daß er 1898 in der Nähe von Chicago geboren war; daß er ein Kriegsheld des Ersten Weltkrieges gewesen war. Sie wußte, daß er nie geheiratet hatte, weil er nie die Frau getroffen hatte, die der Stärke seiner Persönlichkeit standgehalten hätte. Sie wußte, daß er viel Geld hatte, aber nie arbeitete. Sie wußte, daß er schon viele Gelegenheitsjobs gehabt hatte, in denen er nach Abbruch des Medizinstudiums zu Beginn der Wirtschaftskrise Lebenserfahrung gewonnen hatte. Sie wußte, daß seine kleine Wohnung am Meer voll mit jenen Büchern war, die sie selbst gelesen und geliebt hatte. Und sie wußte, daß sie ihn liebte.
In einer Sommernacht im Jahre 1943 ging das Liebespaar am Strand bei San Diego spazieren. Doc erzählte Marcella, daß er sich wieder im Raum Los Angeles niederlassen wollte; dort hätte er die »Chance seines Lebens«. Er würde nur bedauern, daß sie sich trennen müßten. Natürlich nur vorübergehend - er würde sie in San Diego besuchen kommen. Er wollte jeden freien Augenblick mit ihr verbringen; sie wäre die einzige Frau, die dem Innersten seines Herzens nahegekommen sei.
Marcella war im Innersten ihres Herzens bewegt und zog alle Fäden, um mit dem Mann zu sein, den sie liebte. Sie zog die Fäden mit großer Präzision, und nach zwei Wochen übermittelte sie Doc die frohe Botschaft: Sie würde ins Marinekrankenhaus in Long Beach versetzt werden, eine halbe Autostunde von Los Angeles entfernt. Ihr Bruder Johnny, jetzt Obermaat, sollte dort als
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