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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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ist, der sterben muss oder Unglück haben soll
    6 Quelle: Matthias Lexers Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch , Stuttgart 1986



WESEN AUS STURZ, ZEICHEN UND BLITZ
    Gedanken zum Helden mit Hilfe Heinrich von Kleists
    DER MANN
    Da steht er: frisch in eine preußische Uniform gekleidet, adelig, nicht reich, 14 Jahre alt, Spross einer berühmten Familie von Heerführern und Soldaten. Fünftes Kind des Vaters, erster Sohn. Der Vater tot, die Mutter bald. Da wächst er noch, »5 Fuß drei Zoll, Haar und Augenbrauen kastanienbraun, Augen blau, Nase klein, Mund mittelgroß, Kinn rund, Gesicht oval«. 7 Kämpfe gegen Napoleon, Märsche, Drill. Im Frühjahr 1799 ersucht Kleist um Demission. Es folgen: ein unruhiges Leben, drängende, scharf gedachte Prosa, Dramen, vaterländisch, komisch, subversiv. Erneuerung der deutschen Literatur aus ihrem Kern, in Themen und Formen, zeichenversessen, gepaart mit schwarzem Humor. Man könnte stundenlang lachen, wie Kleist immer noch weiter dreht an seinen Figuren, den hanebüchenen Taten und Ausflüchten etwa des Dorfrichters Adam im Zerbrochnen Krug oder der Marquise von O., die am Ende, lechzend küssend und geküsst, auf Papas Schoß sitzen muss oder darf. Frisch erzählt im Jahr 1810.
    Kleist sucht den Menschen in seinem Innen- und Außenleben auf, klar und schnell, in kaskadischen Sätzen. Emotionen, die sich selbst für die Figuren nicht mehr greifen lassen, übersetzt er in Szenen, zeigt sich als Meister überraschender Stürze und Sprünge. Geradezu nackt wirken seine Texte, was Religiöses angeht, allemal im Vergleich zu Zeitgenossen wie etwa Johann Peter Hebel, mit dem Kleist sich das Interesse am Anekdotischen teilt. Kleist ist Semiotiker. Namen erscheinen ihm als Wahrheitszeichen, doch sie zerfallen, Körper tragen Spuren, die der Deutung bedürfen, gefälscht werden können, zerredet. Im Käthchen von Heilbronn spricht das letzte Dramenwort die falsche Braut, ein Wesen aus kosmetischen Ersatzteilen, gegen die heutige Eingriffe sich nahezu zurückhaltend ausnehmen.
    Da sitzt er, heimgekehrt ins Elternhaus in Frankfurt an der Oder, im Frauenreich aus Tante und Schwestern. Kleist phantasiert von Wissenschaft und Verdiensten, verlobt sich mit Wilhelmine von Zenge, der Nachbarin, schreibt Anweisungen zum Glücklichsein. Noch auf der Vignette, die ihn als 24-Jährigen zeigt, wirkt er knabenhaft. Der Knabe sucht Begleitung für eine mehrwöchige Exkursion nach Würzburg, deren Zweck bis heute unklar ist. Dass Gerüchte aufkamen, ob Kleist als Spion – für Preußen?, für Frankreich? – reiste, nimmt wenig Wunder, gern gab der Autor sich geheimnisvoll, allemal in den Briefen an die Braut, die er nie heiraten wird. Unter seinen literarischen Zeitgenossen beginnt die Romantik, in Weimar wird eifrig Klassik erzeugt. Kleist hingegen hat kein Programm beziehungsweise scheitert mit dem Programm, das er sich setzt: den preußischen König gewinnen, Geld verdienen, die Zeitung Berliner Abendblätter etablieren. Auf der Reise nach Würzburg liegt er auf dem Strohwagen im Regen, verkrochen unter eine Decke. Zuvor hat er in die Sterne gesehen.
    Seine Briefe enthalten Essays sowie literarisierte Szenen, erst im Frühjahr 1802 verfasst Kleist, hauptsächlich in einem Häuschen auf einer Insel der Schweizer Aare, sein erstes literarisches Werk, das Trauerspiel Die Familie Schroffenstein . Die Konstellation ist kein Zufall: Gegenüber Wilhelmine behauptet Kleist, Bauer werden zu wollen. Welche Tarnkappe. Man erhascht einen Blick auf die stille, sich versteckende Seite des beredten Mannes, der »Pfirsichblüte« als »Fürsichblüte« schreibt. Wendet man Kleists Buchstaben, Satzzeichen und Namen umfassende Deutungsliebe einmal auf ihn selbst, kommt man auf »liest« sowie den botanischen Begriff »kleistogam«. Er bezeichnet die zweiten Blüten gewisser Pionierpflanzen, etwa des Veilchens oder der Stängelumfassenden Taubnessel, Blüten in Jahren der Not, wenn das lebendige Wesen, allein in ein Gebiet eingewandert, keinen Partner findet und sich, ohne sich zu öffnen, selbst bestäuben muss.
    Pionierpflanze Kleist. Daran, dass seine Briefe vollkommen anders klingen als seine Literatur, erkennt man vielleicht am unmittelbarsten, wie viel Arbeit in die Texte floss. Sie wirken entschlackt, gereinigt von Zeit. In seinen so klugen wie poetischen Aufsätzen Über das Marionettentheater oder Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden erweist Kleist sich als Gedankendichter im

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