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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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inmitten ihrer Handlung. Sie erzählt, dass man oft selbst nicht weiß, was im eigenen Inneren geschieht, nicht einmal, wenn dieses Innere ganz körperlich ist. Sie zeigt, dass, wer von Geheimnissen sprechen will, immer auch sagen muss, was als »Wissen« gilt. In Satzkaskaden und Drehungen, in raffinierten Wendungen der Handlung und der Syntax handelt sie von Behältnissen. Behältnissen wie Häusern, Bäuchen, Ohnmachten und Träumen. Behältnissen wie Familien und Worten.
    Die Marquise hat eine Annonce in die Zeitung gesetzt: Der Vater des Babys, das sie erwartet, möge sich melden. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie mit ihren Kindern wieder bei den Eltern. Der Krieg schwemmt Truppen »fast aller Mächte« vor die Zitadelle von M.; dem Ansturm der Russen muss der Kommandant, der Vater der Marquise, sich ergeben. Beinahe wird seine Tochter im Kampfesgetümmel vergewaltigt, ein edler russischer Graf rettet sie. Soldat, Regelerfüller, Held. Kurz darauf hält er um ihre Hand an – man will warten; er muss in die Schlacht, man erfährt, er sei gefallen. Und steht nichtsdestotrotz, Wochen später, leibhaftig wieder im Vorzimmer der neuen Kommandantenwohnung (das Haus ist seit dem Kampf mit den Russen verloren). Inzwischen hat die Marquise Veränderungen an sich bemerkt, ohne sich erklären zu können, wie es auch nur zur Möglichkeit dieser ihr bekannten Körpersensationen gekommen sein mag. Der Arzt wird beschimpft, die Hebamme weiß, was sie fühlt: »der muntere Korsar, der zur Nachtzeit gelandet« 13 , werde sich finden. Der Kommandant feuert die Pistole auf die schandbare Tochter, sie soll ihm ihre Kinder überlassen, die Marquise setzt den Nachwuchs und sich in die Kutsche und flieht auf ihren Landsitz. Der Erzähler kommentiert: »Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht …« 14 So kommt die Anzeige in die Zeitung.
    Der Mutter missbehagt die Verstoßung der Tochter; sie stellt ihr Kind auf die Probe, indem sie behauptet, der Jäger des Vaters habe die Tat gestanden. Die Marquise glaubt, greift sich ans Herz, nun ist die Obristin beschämt. Große Versöhnung der Frauen. Sie haben Ideen. Mutter und Tochter fahren zurück in die elterliche Wohnung, Friedensschluss zwischen Vater und Tochter. Die Annonce greift, der Dritte, an dem der Erzeuger des Kindes sich melden soll, ist gekommen. Zur Tür herein tritt – der russische Graf. Die Marquise, vielleicht noch immer mit sich bekannt, wird wild wie »eine Furie« 15 , bespritzt die Familie mit Weihwasser und stürmt davon. Man legt die Hochzeit auf den nächsten Tag; der Graf verzichtet auf alle Eherechte. Das Kind, ein Junge, kommt zur Welt. Der Graf beträgt sich vortrefflich, reich ist er zudem. Ein Jahr später gibt es eine zweite, »echte« Hochzeit. Das letzte Wort der Erzählung gehört der Marquise, nachdem noch viele weitere junge Russen dem ersten gefolgt sind. Der Graf fragt, warum sie an jenem »fürchterlichen Dritten« vor ihm floh. »Sie antwortete, indem sie ihm um den Hals fiel, er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.« 16
    Eine Soldatengeschichte. Eine Geschichte aus den Tiefen des Krieges. Tod, Schnelligkeit und Regelverstoß sind eng verbündet. Der goldene Schopf einer Gelegenheit. Und der Zusammenstoß der Heldenwelt mit der zivilen Ordnung, der der Held doch ebenfalls angehört.
    Schwierig und gefährlich sind die Übergänge. Heinrich von Kleist weiß das aus eigener Erfahrung. In der Marquise von O. setzt sich fort, was schon die Dramen antreibt: Der Menschenkörper wird als Fahrzeug entdeckt und gebraucht. Er bringt es zu Effekten erstaunlichster Art. Wie weit sie ›Seele‹ heißen, interessiert nicht (mehr). Vielleicht ist auch sie ein Körpereffekt, getaucht in Träume, Verwundungen, Schlaf, Erröten, Schwangerschaft. Umstellt von einem gummiartigen, auskrakenden, stützenden und gefährlichen Gebilde namens »Familie«.
    Ein Spiegelkabinett öffnet sich. Alle Figuren beziehen sich in Mehrfachkonstellationen aufeinander. Der Kommandant und der Russe, Soldat und Soldat, Vater und werdender Vater, Liebhaber und Liebhaber. Der Russe verweist auf den Bruder der Marquise und den später ins Spiel kommenden Jäger, der der »Jäger des Vaters« ist. Grammatische Spiegelung nennt man das auch. Am gefürchteten Dritten erscheint der Jäger, um den Russen anzukündigen. Die Marquise selbst wird als Mutter in ihrer Mutter

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