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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Tränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küsste sie. Die Mutter fühlte sich, wie eine Selige; ungesehen, wie sie hinter seinem Stuhle stand, säumte sie, die Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause wieder geworden war, zu stören. 18
    Das ist so überdeutlich erzählt, dass man das Inzestuöse kaum mehr bemerkt. Man sieht und will nicht glauben, obwohl oder weil die Sprache so eindeutig ist, mit »lechzenden Küssen« und »erster Liebe«. Schuld daran sind Kleists Satzbau und die Reaktionen der Obristin. Sie, die durchs Schlüsselloch späht, treibt die Verwischung von Wirklichkeit voran, eine Verwischung der Körper. Die Obristin fungiert, wie sie da an der Tür klebt, als unser Sehrohr: verkörperte Einäugigkeit. Wenn wir etwas wissen wollen, müssen wir ihr folgen. Dass sie, was sie sieht, nicht skandalös findet, sondern sich noch munter in die Personenkette einhängt – ihren Ehemann nennt sie Vater, womit sie selbst wiederum an die Kussstelle der Tochter schlüpft –, ist der eigentliche Skandal, das zentrale unerhörte Ereignis.
    Eine weiche Stelle. Eine Stelle, an der die Novelle der erzählten Ordnung nahetritt. Zu nahe vielleicht.
    Der Text wird heimtückisch. Zum einen erscheint der Kommandant ausgerechnet hier als völlig impotent: Seine Frau steuert ihn. Er heulte, schlich heran. Dann sitzt er im Zimmer der Marquise. Die Marquise sitzt auf seinem Schoß. Wie ein Töchterchen.
    Andererseits: mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen geschlossen. Der Vater küsst sie auf den Mund. Speichel und Tränen fließen.
    Beide sind stumm.
    Sie scheinen geübt.
    Die Zeichen weisen einmal hierhin, dann dorthin. Die Vergewaltigung durch den russischen Grafen, wenn es denn eine war, hat ein Inzestverhältnis beendet, wenn es denn eines war. Das hieße, dass der Graf einen Regelverstoß durch einen anderen aufhob. Und die Entmachtung des Kommandanten wahrlich konsequent zu Ende führte. Regelrecht – die Tochter aus dem Familienschoß riss?
    Unversehens wird die Kommandantin zur entscheidenden Figur. Anfangs erschien sie als Anhängsel ihres Mannes. Er diktierte ihr den Brief, mit dem die Marquise des Hauses verwiesen wurde. Die Kommandantin musste ihrem Gatten gehorchen, das gesamte Ende der Novelle indes verdankt sich ihrer Regie. Dennoch bleibt undurchdringlich, was diese Frau wahrnimmt oder fühlt, zumindest wenn man auf innere Gedanken der Figur und/oder einen Kommentar des Erzählers wartet. Nur eines hilft weiter: die Sprachführung.
    »Die Mutter fühlte sich, wie eine Selige.« Mitten im Satz setzt Kleist ein Komma. »Die Mutter fühlte sich« – also endlich einmal?
    »Wie eine Selige« rasch angefügt.
    »Sie nahte sich dem Vater endlich, und sah ihn, da er eben wieder mit Fingern und Lippen in unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war, sich um den Stuhl herumbeugend, von der Seite an.« 19
    Kleist gibt sich Mühe, die Vater-Tochter-Schmelze mit großer Übergoldung zu erzählen. Immer deutlicher wird die Beschreibung, immer verharmlosender fallen die Reaktionen der Beobachterin aus. Der Erzähler wiederholt sich: »Lust«. »Unsägliche Lust«. Kommata, Strichpunkte, Doppelpunkte. Dramatik in allen orthografischen Zeichen. Im Widerspruch dazu die Semantik; die Scherze der Mutter-Ehefrau, die sich als Spiegelung der Tochter gefällt. Sie rutscht der mehrfach pervertierten (verdrehten) Pieta aus Mann und Kind fast noch zusätzlich auf den Schoß.
    »Der Kommandant schlug, bei ihrem Anblick, das Gesicht schon wieder ganz kraus nieder, und wollte etwas sagen;«
    – Strichpunkt, Stockung –
    »doch sie rief: o, was für ein Gesicht ist das! küsste es jetzt auch ihrerseits in Ordnung, und machte der Rührung durch Scherzen ein Ende.« 20
    »Was für ein Gesicht ist das?« ist eine großartige, auch großartig komische Frage. Rhetorisch in vielerlei Hinsicht. Bemutternd. Ein Ausruf. Ein Stück Sprache dort, wo Sprache fast aufhört. Die aus den Fugen geratene Ordnung lässt sich nur mehr mit dem Körper richten: sie küsste es zurecht.
    Kleist entfacht ein sprachliches Feuerwerk. Der Aufwand ist

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