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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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gespiegelt, aber auch als Geliebte; die Mutter erscheint in der Geliebtenrolle in der Marquise, die ihrerseits als Schwan durch die Träume des Russen schwimmt. Die Strafe für sein Handeln an der Marquise erleiden die »Mordknechte« des Anfangs, einfache Soldaten; sie werden für den bloßen Versuch einer Vergewaltigung erschossen, der Graf wird belobigt, aber im nächsten Gefecht von einer Kugel ereilt.
    Nicht nur Figuren, sondern auch Schauplätze und Handlungselemente spiegeln sich. Ständig wird etwas geworfen oder ausgestoßen: Feuer, Blitze, Spermien, Pistolenkugeln. Die Marquise aus der Familie. Das Kind aus der Marquise. Am Ende wirft der Graf zwei Papiere im Wert von 20 000 Rubeln und mehr aufs Bett der Wöchnerin. All diese Bewegungen und Drehungen hält allein der schwarze Buchstabenfaden einer Zeitungsnotiz, die mit der Körperverwirrung der Marquise beginnt. »Ohne ihr Wissen« teilt die Marquise mit, sodass nun alle von diesem Nichtwissen wissen. Eine interessante Botschaft. Zudem in eine Zeitung gesetzt, jenes Medium, das sich ständig selbst überholen muss, was ihm gelingt, indem es als dasselbe stets anders gefüllt wiedererscheint. Mittendarin: Kleist. Als Romantiker? Ich höre ihn lachen.
    Er weiß vom Nichtwissen mehr als die Romantik träumen kann.
    Er ist grob. Einer in Stiefeln. Der die Löcher kennt, an und im Menschen. Der edle Russe hält eine bewusstlose Frau im Arm, und? Tut eben das, wovor er sie nach seinem Ehrenkodex soeben errettete. Rasch, ohne Zögern. Hier gelten andere Gesetze: der Gelegenheit? Des animalischen Instinktes? Der Erzähler schweigt.
    Und die Gefühle der weiblichen Hauptfigur? Erst hat sie keine. Dann laufen sie ihr hinterher. Die Marquise jagt der eigenen Handlung nach. Woher Gefühle kommen? Sind sie echt? Das scheint die Frage der Marquise zu sein. Die Familie schaltet sich ein. Man will nachdenken, prüfen. Gefühle ändern sich doch.
    Ergebnis: Echt ist das Kind.
    Kleist erweist sich, zumindest auf den ersten Blick, als Pragmatiker. Regelbrüche passieren, werden aber mit Hilfe von Verträgen und Geld in die Ordnung des Gemeinwesens zurückgebogen. Am Ende steht ein fruchtbares Eheleben. Man hat sich arrangiert, die Teufel-Engel-Projektionen dem anderen gegenüber aufgegeben.
    Man sieht es nun so: Der andere ist ein Mensch.
    Welch Satz. Der ANDERE ist ein Mensch.
    Die Gemeinheit dieses Satzes.
    Und auch diese Gemeinheit ist doppeldeutig.
    Ein Kleistvirus. Kleistogamie. Außen und innen blühen, einmal »normal«, verdeckt darunter erneut. Sätze beginnen, sich in sich selbst zu drehen.
    Zurück zur Marquise . Noch fehlen zwei entscheidende Konstellationen. Zurück in die Marquise . Welch belebter Raum. Einem ersten »Zuviel« zwischen Graf und Marquise schiebt die Novelle ein zweites unter. Um es zu erkennen, darf man dem inszenierten Skandalon der Erzählung in seinem Eroberungssetting, das aufs schönste einer Romance-Soap entspricht, nicht auf den Leim gehen.
    Die Armee der Zeichen
    Die Marquise zeigt uns Kleist als Semiotiker. Bindestriche, Kommata, Buchstaben wie Marquise von O… Als semantisches Zeichen verweist dieses O auf den ersten Ehemann der Marquise. Er fehlt. Als graphisches Zeichen, als Bild, ist es eine ovale Öffnung. Ein genau umfasstes Loch.
    So wirft er sich den Ball hin: der Autor namens Kleist, der gern tut, als spiele er leichthin. Der Ball rollt, die Armee der Buchstaben marschiert. Auch hier springen aus der Nachricht zu Beginn der Erzählung die Bilder eines Brandes. Man genieße den Blitz:
    Eben als die russischen Truppen, unter einem heftigen Haubitzenspiel, von außen eindrangen, fing der linke Flügel des Kommandantenhauses Feuer und nötigte die Frauen, ihn zu verlassen. Die Obristin, indem sie der Tochter, die mit den Kindern die Treppe hinab floh, nacheilte, rief, dass man zusammenbleiben, und sich in die unteren Gewölbe flüchten möchte; doch eine Granate, die, eben in diesem Augenblicke, in dem Hause zerplatzte, vollendete die gänzliche Verwirrung in demselben. Die Marquise kam, mit ihren beiden Kindern, auf den Vorplatz des Schlosses, wo die Schüsse schon, im heftigsten Kampf, durch die Nacht blitzten, und sie, besinnungslos, wohin sie sich wenden solle, wieder in das brennende Gebäude zurückjagten. Hier, unglücklicher Weise, begegnete ihr, da sie eben durch die Hintertür entschlüpfen wollte, ein Trupp feindlicher Scharfschützen, der, bei ihrem Anblick, plötzlich still ward, die Gewehre über die Schultern hing,

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