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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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Symptom für die Stärke der Familien- und Geschlechterordnung, die die Szene in Frage stellt. Die Individuen schmelzen dahin. (Fast) ohne Ich. Sprachlos sind am Ende alle drei.
    Nur stockend setzt die Erzählung sich fort. Das Gemeinwesen, repräsentiert in der Familie des Obristen und ihrem sozialen Umfeld, ist mit der Heilung der Regelverletzung, die das Handeln des Grafen bedeutete, so beschäftigt, dass sie alles andere geschehen lässt.
    Es zeigt sich. Wird hervorgelockt.
    Kleist erzählt von einem Gemeinwesen in schönster Überforderung.
    Der Krieg hat Regeln. Man schießt, es brennt. Gefährlich wird der Innenraum, in dem man sich Auge in Auge gegenübersteht. Graf und Marquise. Vater und Marquise. Und die viehische Natur des Menschen. Der Dritte, eine Beobachterin, unterbricht und definiert das Geschehen auf »selig« um. Am Ende der Marquise aber hat der Leser gelernt, solchen Attributen zu misstrauen.
    »Nun galt es, beim Anbruch des nächsten Tages, die Frage: wer nur, in aller Welt, morgen um 11 Uhr sich zeigen würde; denn morgen war der gefürchtete Dritte.«
    Der Graf erscheint, auch die Marquise versteht – und ist entsetzt. Man einigt sich über ihren Kopf hinweg; sie bleibt stumm bis auf ein Ehe-Ja, das der zugleich geschlossene Vertrag entkräftet. Das Kind kommt zur Welt, der Graf gibt Geld. Er verhält sich vorbildlich. Die Ordnung darf sich erholen.
    Dank der Obristin und ihrer Sozialkünste nähert man sich im Verlauf eines Jahres einander wieder an. Diesmal doppelt, als Familie und in der Person der Marquise. Ein weiteres Mal zieht die Marquise aus dem Elternhaus aus.
    Damit wird die Vater-Tochter-Verbindung endgültig gelöst. Sollte die Versöhnung der beiden für die betrachtende Mutter-Ehefrau so selig gewesen sein, weil sie eben dieses Ende bedeutete, die väterliche Zustimmung zur Hochzeit? Allein die Obristin brachte diese Hochzeit unter Dach und Fach, nur sie war imstande zu sprechen, als der Kommandant und der russische Graf einander gegenüberstanden:
    Der Kommandant, von dieser seltsamen Erscheinung betroffen, fragte, was vorgefallen sei; und erblasste, da er, in diesem entscheidenden Augenblick, den Grafen F… im Zimmer erblickte. Die Mutter nahm den Grafen bei der Hand und sagte: frage nicht; dieser junge Mann bereut von Herzen alles, was geschehen ist; gib deinen Segen, gib, gib: so wird sich alles noch glücklich endigen. Der Graf stand wie vernichtet. Der Kommandant legte seine Hand auf ihn; seine Augenwimpern zuckten, seine Lippen waren weiß, wie Kreide. Möge der Fluch des Himmels von diesen Scheiteln weichen! rief er: wann gedenken Sie zu heiraten? – Morgen, antwortete die Mutter für ihn, denn er konnte kein Wort hervorbringen, morgen oder heute, wie du willst; (…) 21
    Blitzexkurs zum Zeichenblitz
    Kleists Blitze sind weder Requisit, Naturphänomen noch Inneres. Während Goethe im Werther – Lotte und der Erzähler stehen während eines Gewitters am Fenster, sie schaut mit Tränen in den Augen auf Himmel und Mann – inszeniert, was im Englischen treffend »pathetic fallacy« heißt (Übereinstimmung von Wetter, Natur und Gemüt), baut Kleist seine Zeichen raffinierter auf. Durch Arbeit und Jagd werden sie geschmeidig gemacht.
    Der Griffel Gottes
    In Polen war eine Gräfin von P…, eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen. 22
    Auf den ersten Blick scheint der Blitz dieser Anekdote als Schreibstift göttlicher Gerechtigkeit zu fungieren. Der allwissende Erzähler weiß die Gräfin von P. einzuschätzen. Geizig und grausam quält sie Menschen, kauft göttliche Verzeihung. Ihr Geld zeugt einen Text über ihrem Körper, in Stein. Steine, Burgen, Blitze erkennt man als Kleistsches Inventar

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