Heimliche Helden
fadendünn wird; Aufschwung wenig dynamisch, lautloser Flug, Einsiedlermanieren […] 28
Ihre Brut füttert die Lehmwespe mit Lebendraupen, die, eingelegt in die Höhle, sich nicht wehren, wenn die Larve nach ihrem Schlupf an ihnen frisst. Ihr Haus, ein Kuppelbau, ist für den Franzosen zunächst ein architektonisch-ästhetischer Überschuss, der nicht durch Zweckhaftigkeit zu erklären ist. Erst die Frage, warum die noch beweglichen Raupen das Ei weder zerdrücken noch fressen, führt ihn weiter. Der Forscher schneidet Fenster in die zwei Zentimeter großen Lehmkuppeln.
Das Ei wird nicht auf die Vorräte gelegt; es wird oben an der Kuppel befestigt, mit einem Faden, der es an Feinheit mit einem Spinnennetz aufnehmen kann. Beim leisesten Hauch zittert und schaukelt der empfindliche Zylinder; er erinnert mich an das berühmte Pendel an der Kuppel des Pantheons, das die Erdrotation beweisen sollte. Der Proviant wird darunter aufgeschichtet! 29
Das Abenteuer nimmt seinen Lauf. Kaum beginnt Fabre, es uns zu erzählen, wirkt das Verhalten der Larve intelligent: Unter ihr liegen zehn bis fünfzehn Raupen mit schlagenden Hinterleibern und greifenden Kauwerkzeugen. Sie verlängert die Eihülle, lässt sich daran herab, bis sie kopfüber an die erste Raupe stößt und frisst.
Insektenszenarien sind schön, weil perfekt in ihrer Funktion. Sie sind gnadenlos. Woher, fragt der Forscher, weiß die Wespenlarve, was sie tun soll? Sie hat kein Vorbild. Ihre Mutter ist tot, wenn sie schlüpft. Diese Fragen bereits zeigen, wie schwierig es ist, der Suggestion der Erzählung zu entkommen, hier seien Wissen und Absicht im Spiel. Erklärt wird das Verhalten der Larve mit »Instinkt«. Je näher man indes hinsieht, umso diffuser wird der Begriff.
Das Wort ›Instinkt‹ wurde im 18. Jahrhundert aus dem lateinischen Begriff instinctae naturae abgeleitet. Ihm liegt das Verb instinguere (anstacheln, antreiben, hineinstechen) zugrunde; Instinkt ist also das Hineinstachelige der Natur, ihre Weise anzutreiben ohne den Raum für Abweichungen zu geben, ohne Freiheit, ohne Entscheidungsmöglichkeit (oder -zwang). Instinktive Verhaltensweisen gibt es auch beim Menschen (Reflexe, sich ducken, saugen u. a.).
Intelligenz hingegen setzt Wahlmöglichkeit und ein gewisses Maß an Willensfreiheit voraus. Innehalten, nachdenken, einen Plan fassen, ihn ändern. Sie ist wesentlicher Bestandteil unseres Selbstverständnisses, unserer Rechtsordnung, unseres Begriffs vom Individuum. Die Gehirnforschung der letzten 20 Jahre indes scheint in diesem Bereich neue Fragen aufzuwerfen. In manchen Situationen lassen sich bereits Sekunden, bevor dem Probanden klar ist, wie er sich entscheiden wird, die der Wahl zugehörigen Gehirnströme messen. Das Subjekt weiß noch nichts von seiner Vorliebe, das Gehirn hat diese indes bereits festgelegt. Das Wesen, so die Forscher, kann nicht anders – seine Entscheidung ist Ergebnis seiner gesamten Geschichte, seiner Neuronenverknüpfungen, seiner gehirnlichen Architektur.
In Gestalt des mit einer tödlichen Waffe bewehrten Insektes zeigt sich der »Held« von seiner maschinellen Seite. Rundum gepanzert, ohne Mimik, ohne Sprache, ohne Laut. Trägt man Fabres Übertragung des Heldenbegriffes auf Insekten wieder zurück auf den Menschen, stellt sich die Frage, wie viel Handlungsfreiheit und Wahlmöglichkeiten dem einmal zum Helden erkorenen und ins Feld gestelltem Wesen tatsächlich zukommen. Es kann seine Rolle aufkündigen, anders als ein Tier; der Ausstieg ist jedoch in der Regel denkbar schwierig; häufig wird er mit dem Tod bezahlt (Desertion, Erschießung, und/oder sozialer Tod). Zugleich zeigt sich daran, wie gut Fabres Rollen-Parallelisierung funktioniert, wie sehr der Heldenbegriff seinerseits den damit »getroffenen« Menschen entpersönlicht. Der Held trägt eine Maske, die ihn entindividualisiert: Sie raubt ihm Gestik, Mimik, Sprache und Selbstbestimmung.
Held: der mit dem Kampfinstinkt? Held: wer sich fast tierhaft (ohne lange nachzudenken) zu bewegen weiß?
Held: hochspezialisiert, mitleidlos, fast maschinell?
Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier wird nicht einfacher, wenn Geschichten erzählt werden. Bei Fabre erscheint die Naturwelt als Welt des Erzählens; das Erzählen als Natur der Welt. Doch ist Erzählen »nur« das menschhafte Angesicht dieser Natur. Fabres Insektenerzählung lebt dabei von einem Effekt, den Literatur, wie sich an seinem Beispiel wunderbar zeigt, leichter und nachhaltiger
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