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Heimliche Helden

Heimliche Helden

Titel: Heimliche Helden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Draesner
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unbedingt guten, aber nutzbringenden Tradition. Unsere großen Erzählungen über Tiere folgen dem Muster Überlebenskampf. Held und Feigling, listiger Trickser und brutaler Stecher, Sieger und Besiegter stehen einander gegenüber. Das reicht über Märchen, Fabeln, Heiligenlegenden, Jägerlatein und Grzimeks Tiersendungen aus den siebziger Jahren bis hinein in zeitgenössische Fernsehfilme über den Blauen Planeten und seine menschverschuldete Zerstörung. Raffinierteste Bildtechniken, einfache Narration; der Übeltäter, Homo sapiens, ist ein Idiot. Auch Fabre macht überdeutlich (»Jägerin«, »wacker«, »Siegestaumel«, »Monster«), wie die Kräfteverhältnisse und Sympathien verteilt sind. Das Insekt und die um ein Vielfaches größere, stärkere, wehrhafte Raupe, die zur Strecke gebracht werden muss, damit der Nachwuchs leben kann. Dass die Raupe selbst ein Tierkind ist, wird ausgeblendet. Unsere Empathie soll der geliebten gelben Wespe gelten.
    Fabres Interpretation der Szene wirft grundlegende Fragen auf: Wie viel Verhaltensfreiheit können und wollen wir einem Tier wie der Ammophila zugestehen? Wie viel Verstehenskompetenz beanspruchen wir dabei für uns selbst? Wo können wir uns vor Übertragung und Projektion hüten? Wie erzählen wir von Tieren, wo liegt die (menschliche) Grenze dieses Erzählens?
    Ludwig Wittgenstein widmet sich in den Philosophischen Untersuchungen unter anderem dem Verhältnis von Gefühl und (Sprach)Ausdruck. Wenn wir sehen, wie sich jemand in Schmerzen windet, wissen wir, was »los ist«, ja, »verstehen«, auch wenn wir selbst den Schmerz, den dieser Mensch erlebt, nicht kennen. Natürlich kann uns ein geschickter Schauspieler überzeugend etwas vorspielen – diese Situation ist allerdings die Ausnahme, sie beruht auf der gelingenden Verständigung in der Grundsituation. Äußeres Verhalten ist, so Wittgenstein, Teil des inneren Gefühls. Und umgekehrt. Fabre führt uns eben dies vor: Wir beobachten ein bestimmtes Bewegungsmuster – die Ammophila wirft sich zuckend umher – und schließen auf Schmerz, ja, fühlen ihn mit.
    Wittgenstein hingegen zieht, was Tiere angeht, andere Schlussfolgerungen. Als Menschen gestehen wir einander Empfindungen zu, wie wir selbst sie erleben, wenn ein Verhalten gezeigt wird, das bei uns mit solchen Empfindungen verbunden ist. Dabei »wissen« wir nicht, was der andere wirklich empfindet, ob sein Schmerz anders ist, als der unsere wäre, doch ist das für unser Verstehen und unsere Kommunikation in der Situation (Hilfe leisten) bedeutungslos. Bei Tieren hingegen stoßen wir an eine anspruchsvollere Art von Grenze, ihre von uns unterschiedene Lebensform. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat das Ende der siebziger Jahre in seinem berühmt gewordenen Aufsatz What is it Like to be a Bat? aufgegriffen. Er geht davon aus, dass jedes Wesen mit Körper und Bewusstsein auch über eine bestimmte Weise der Selbstwahrnehmung verfügt. Es besitzt ein eigenes In-der-Welt-Sein, bestimmt (begrenzt und eröffnet) von seinen Sinneswahrnehmungen und deren spezifischen Kanälen. Fledermäuse, und, müssen wir annehmen, auch Insekten, allemal solche, die bei Raupen Nervenganglien im dritten Brustsegment zu treffen wissen, leben in einer anderen Welt, mit anderen Bewusstseinsweisen als wir. Selbst wenn der Löwe Menschensprache spräche, so Wittgenstein, verstünden wir ihn nicht, weil seine Art und Weise, unsere Sprache zu benutzen, eine völlig andere als die unsere wäre.
    Diese Grenze stellt Ansprüche an uns. Fabres Beobachtungen spielen mit ihr und unserer Phantasie. Untergründig bringen seine Aufzeichnungen zur Verhandlung, wie wir Tiere benutzen, um uns in ihnen zu spiegeln und an ihrem Beispiel zu verstehen, was »Leben« heißen könnte.
    Sie malen ein erschreckendes, dramatisches, berührendes Bild.
    Am Ende wird, wer Fabre liest, mit einer Antwort auf die Frage: »Was können wir überhaupt verstehen?« belohnt. Die Antwort heißt: »Nicht einmal das können wir beantworten.« In diesem Augenblick hat der Leser Glück: Er ahnt, wie weit die Welt sich über ihn hinaus erstreckt – wie fremd, wie schön.
    Erzählen als Natur der Welt
    Wespengewand, halb schwarz, halb gelb, schlanke Taille, behänder Gang, die Flügel in Ruhe nicht flach ausgebreitet, sondern in der Mitte längs gefaltet; der Hinterleib wie eine Retorte, kürbisförmig und mit dem Bruststück durch einen langen Hals verbunden, der sich erst birnenförmig verdickt und dann

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