Heimliche Helden
etwas zu sein, was sie nicht sind.
Schädlichs Buch hat journalistische Anteile, spätestens jedoch dadurch, wie es sein Thema in seine eigene Form übersetzt, wird es Literatur. Die beiden Forscher suchen und stümpern, sammeln Fälle der Täuschung, sitzen selbst einer auf, erkennen das, aber nur halb. Der eine macht weiter, der andere flieht so weit weg, wie er nur kann. Die »Anders«-Geschichten setzen sich fort, der Ich-Erzähler aber beendet das Projekt.
Anders kostete zwei Jahre nach Erscheinen antiquarisch 0,79 €. Ist Schädlichs Roman schwierig? Nein. Er ist spannend. Er lässt Komplexität auf einfachste Weise zu, indem er Kontexte aneinanderhängt. Alles Weitere dürfen wir selbst entdecken. Das Projekt, am Ende, sind – wir. Ein jeder selbst ein Fall.
Politisches in Literatur heißt weder einfach, sich für etwas zu »engagieren« noch »Widerstand« aufzubauen. Politik in Texten meint Wahrnehmen statt Meinen. Schädlichs Roman ist politisch, weil er Politisches zeigt, über Politik reflektiert, sie zugleich in ihrer Herstellung durch Sprechakte aufweist und eben diesen Vorgang selbst noch einmal reflektiert. Nicht zufällig betrifft die letzte »Lügengeschichte« um Dschidschi ( GG ) einen Politiker des Staates, in dem wir heute leben.
Manche Wissenschaftler behaupten, dass ästhetische Gebilde unsere Denkstrukturen beeinflussen und in die emotionalen Strickmuster von Menschen eingreifen. Autoren glauben daran schon länger. Man mag dies für eine Strategie des Selbstschutzes halten; für mich ist es ein Stück Lebenserfahrung. Ich lese Literatur, weil ich die Rückwirkungen der Kategorienaufweichung in mein Leben nicht missen möchte, weil ich am Beispiel von Figuren lerne, wie vielfältig Welt sich erleben und beantworten lässt. Realliteratur ist für mich nicht jener »relevante Realismus«, der vor einigen Jahren als Schlagwort die Feuilletonrunde machte, sondern eine Literatur, die Realitätsprozesse selbst thematisiert. Etwa sich wie Anders auf historisch Recherchiertes bezieht, dabei aber fiktiv ist, fiktive Figuren erscheinen lässt und anhand ihrer Handlungen und Gespräche aufweist, wie Wissen und Erfindung, Erzählung und Faktum eines werden oder längst geworden sind.
Zweifach handelt Literatur mit Sprache. Zum einen zeigt sie uns, wie Figuren sich durch sprachliche Strategien, rhetorische Kniffe, Lügen und Notlügen durchs Leben bewegen. Zum anderen handelt sie selbst sprachlich – am Leser. Hypothetische, aber realmögliche »Fälle« werden erzählend ausgelotet, indem die Strukturen jener Systeme, die unsere verschiedenen Wirklichkeiten betreiben, im Wortsinne »ausgedacht«, nämlich an ihre Grenzen geführt werden: gebogen, übertrieben, sichtbar gemacht. Ein Stück Analyse also, im Gewand von Figuren so gesprochen, dass der sprachliche Charakter von Welt, jener immer von Fiktionen, Hypothesen und irrationalen Entscheidungen durchsetzten Wirklichkeit, mit sichtbar wird.
Der indische Kuckuck, Kukula genannt, ruft, jemand schlägt auf das Dach des Tuktuks, das hier Treewheeler heißt, weil man das englische th nicht aussprechen kann. In Anders folgt einer Geschichte von gestern eine von heute, einer aus dem Westen eine im Osten. Die Geschichten veränderter Identitäten, der Entwurzelung, Verfolgung – nirgendwo auf der Welt lassen sie aus. In zwei Tagen soll ich zurückfliegen nach Berlin. Auf den Straßen Colombos wurden die Verkehrs- und Personenkontrollen noch einmal verstärkt, die Sonne scheint. Wir fahren am Parlamentsgebäude der sozialistischen Republik Sri Lanka vorbei. Auf einem großen Roundabout in der Nähe demonstrieren Menschen für mehr Pressefreiheit. Elegant gleitet der Verkehr um sie herum. Sie bleiben stumm.
Doch sie sind da.
88 Hans Joachim Schädlich, Anders, Reinbek beiHamburg 2003, S. 154
WENN HELDEN BADEN GEHEN
Männerfreundschaften im Werk Gerd-Peter Eigners
Bevor ich dem Autor Eigner im Sommer 1995 begegnete, begegnete ich dem Gerücht, dieser Mann schreibe immer (nur) über Männer. Ich hatte nichts gelesen, fand das Gerücht aber interessant; Eigner lächelte und drückte mir sein Hörspiel Die langen zwölf Stunden der Kindheit in die Hand.
Es sprechen: ein Mann und eine Frau, ein Junge und ein Mädchen.
Es zeigt sich ein Drehpunkt von Eigners Schreibkunst: »Immer haarscharf an der Unwirklichkeit des Gesagten vorbei, denn das Gesagte ist ja nicht die wirkliche Wirklichkeit.« 89
Es zeigt sich: Eigners Weise, diese nicht wirkliche
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