Heimliche Helden
nun eng umschließenden Welt. Für drei Wochen kehrte Stroff in die norddeutsche Landschaft seiner Kindheit und Jugend zurück, er blieb drei Monate, woran seine 17 Jahre alte Nichte Swantje keinen unerheblichen Anteil trug. Schließlich sprang er ihretwegen, ihr nah, von einer Mole, von der er immer gesprungen war, ins Wasser – und teilte sich entzwei. Querschnittsgelähmt sitzt er in einer behindertengerechten Wohnung; der ihm von jeher wesensferne Bruder, Beamter, Deichbauingenieur, kümmert sich um ihn. Im Rückblick erzählt Stroff, wie er der Nichte vom Himmel an der Küste erzählte, den er kennenlernte, indem er unter ihm aufwuchs, wegging und wiederkehrte. Über zehn Seiten erstreckt sich die Beschreibung: Man spürt rhythmische Abstürze und Auffahrten, Treppen und Fluchten, sieht und fühlt ein bewegtes Wolken-, Luft- und Strömungsgebilde, die Spannung verlagert sich aus der Handlung zwischen den Figuren hinein in Betrachtung, bis der Erzähler die Beschreibung abbricht, um sein Gegenüber nicht zu langweilen, während der Leser sich nicht gelangweilt hat, gefangen von der Sprachschönheit des Textes und einer subkutanen Erwartung (was passiert zwischen dem Erzähler und der Nichte), die aufgebaut wird, um in sich zusammenzufallen und mit den nächsten Erzählzügen neu zu entstehen.
Und der Held?
Die Sprache selbst.
Held: die Vervielfältigung des Ichs im Raum des Erzählens. Zwischen Ich-heute und Ich-früher, zwischen mir und ihr.
Schwimmbäder sind ausgezeichnete Orte solcher Aufbauschungen und Intensität. Alles hier spiegelt sich: Wasser und Luft, anderer, ich und ich. Sie sind Bühnen heldischer Taten und schrecklicher Niederlagen gleichermaßen. Nachts mag man in diesen Raum einbrechen, um darin zu liegen und einander endlich, geschützt, zu berühren – als Leser berühren zu lassen; man kann jederzeit aber auch erwischt werden, untergehen. Die »Wirklichkeit«, die sich in einem derartig körpergefüllten, ja geradezu überfüllten Körper-Sprech-Raum zeigt, ist schwimmbadkonsequent glitschig und gemein. Sie trifft die relationale Wahrheit des Augenblicks des Sprungs vom Turm. Sie trifft die Beziehungsabhängigkeit der Wahrheit des Augenblicks des Sprungs vom Turm.
Eigners Leser erleben den Sprung nicht von innen, sondern von der Figur eines Beobachter-Erzählers aus. Er wiederum erlebt, dass er beobachtet, und erlebt mithilfe des Beobachtens – er schwimmt sozusagen sekundär. Diese vertrackten und auf eigene Weise realistischen, nämlich sprechrealistischen Konstellationen machen allerdings nur den ersten Teil von Eigners Romankunst aus. Im Kern verdankt sich die erarbeitete, wirkliche Nichtwirklichkeit seines Geschriebenen der Energie, mit der der Autor seine Sprache vorantreibt.
Ein Motor, tiefes stetes Brummen; knapp überm Erdboden saust das Gefährt dahin. Ein Absatz im Text bedeutet bei Eigner nicht »Luft«, sondern »weiter« in der Furche, die der Text sich selbst gräbt, weiter in der Schneise, die er schlägt durch Möglichkeiten und Leben. Er tut dies mehr oder minder sanft. Eigners Texte kennen zärtliche Momente; ihr Hintergrund ist psychische und physische Gewalt. Man stürzt sich über die Kante des Sprungbrettes, um erneut an ihr zu stehen.
Schraubensprung oder Salto, gestreckt, gehechtet, gehockt. Hier das Schwimmbecken, dort das zurückgezogene, denaturierte Meer. Eigners Romane sind zeitgenössisch, genau. Lustvolles Modulieren auf der Leiter »mehr oder minder sanft«, spannend gewiss, unglücklich sowieso, »immer haarscharf an der Unwirklichkeit des Gesagten vorbei«. Unerträgliche Dauer der Wahrnehmung einerseits, unerträgliche Scharfstellung zugleich. Ein derartiger »Realismus« ist weder Abspiegelung noch Wiedergabe, sondern vierdimensionales Erzählen, das Verbindungen nach oben und unten, in Zukunft und Vergangenheit austreibt und Menschen bewegt, die nie allegorisch sind, nie nur individuell. Dank der in Wahrnehmungen, Berichte, Erinnerungen, Gefühle, Wiederholungen und Schleifen gebrochenen Sprache laufen alle Figuren in mehr als einem Körper umher, als bewegten sie sich unter Flutlicht, im Flutlicht der Sprache, mit vier Schatten zugleich. Kommen sie zueinander, breitet Eigner gemeinste körperliche Verlockungen aus, alles wird Pause, Rhythmus, Schnitt. Es kann nicht Wunder nehmen, dass der Autor auch Gedichte schreibt. Beschreibungskunst à la Flaubert, dazu Dostojewskis Gewalt und eine wilde Mischung aus ständigen Spiegelungen, die zeigt, warum
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