Heimliche Wuensche
von ihrer Schwester und sah sie lächelnd an. »Eine so dicke alte Jungfer wie ich? Wer würde mich schon haben wollen?«
Terel erwiederte schniefend: »Wir wollen dich haben. Vater und ich wollen dich haben.«
Nellie spürte, wie der Hunger sich wieder in ihr regte. Sie bewegte sich von Terel fort und stellte das Tablett abermals auf dem Schoß ihrer Schwester ab. »Du solltest deinen Lunch essen und vielleicht einen Mittagsschlaf halten. Du bist sicherlich sehr müde von all den Sorgen, die du dir machst.«
»Ja, ich schätze, das bin ich. Aber geh noch nicht fort, Nellie.«
Widerstrebend fand Nellie sich bereit, sich auf den Bettrand zu setzen. Der Hunger plagte sie jetzt schrecklich.
»Ist er wirklich fort?« fragte Terel mit vollem Mund. »Du hast ihn doch nicht irgendwo unten im Erdgeschoß versteckt, nicht wahr?«
»Nein.« Nellie konnte sich vor Hunger kaum noch beherrschen.
»Oh, Nellie, du weißt nicht, was für ein Fluch das ist, so jung und hübsch zu sein wie ich. Die Männer suchen mit den schrecklichsten Absichten deine Nähe.« Sie brach ein Stück Brot entzwei, das Nellie erst an diesem Morgen gebacken hatte, und warf ihrer Schwester einen harten Blick zu. »Bist du zum Erntedankfestball eingeladen worden?«
Nellie spürte, wie sie heftig errötete. »Ja«, flüsterte sie.
Terel stellte das Tablett auf den Tisch am Fußende ihres Bettes und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich bin nicht eingeladen worden. Ich bin die einzige Person in der Stadt, die nicht zu diesem Ball geht.«
Wieder zog Nellie ihre Schwester in ihre Arme. »Du kannst meine Einladung haben. Ich glaube nicht, daß ich den Ball besuchen werde. Zudem wüßte ich gar nicht, was ich anziehen sollte. Ich habe kein Kleid, das sich für einen Ball eignen würde.«
»Ich kann deine Einladungskarte nicht verwenden. Die Taggerts meinen, ich wäre gesellschaftlich nicht akzeptabel. Ich! Wo doch jeder weiß, daß die Taggerts nichts sind als bessere Kohlenschipper. Oh, Nellie, ich wünschte ...«
»Was wünschst du dir?«
Terel entzog sich schniefend Nellies Umarmung. »Ich wünschte, ich wäre das beliebteste Mädchen in Chandler. Ich wünschte, ich würde zu jeder Party und zu jedem Ausflug eingeladen. Ich wünschte, daß keine Party in Chandler ohne mich stattfindet.«
Nellie lächelte. »Dann würde ich mir dasselbe wünschen.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Ich wünschte, du wärest das beliebteste Mädchen, das Chandler jemals erlebt hat, und daß du mehr Einladungen bekommst, als du bewältigen kannst.«
»Ja, das wäre nach meinem Geschmack«, sagte Terel lächelnd.
»Das würde dich glücklich machen?«
»Oh, ja, Nellie, ich wäre sehr glücklich, wenn ich beliebt wäre. Das ist alles, was ich vom Leben verlange.«
»Dann hoffe ich sehr, daß dieser Wunsch in Erfüllung geht«, sagte Nellie. »Warum machst du jetzt nicht einen Mittagsschlaf? Ich habe noch viel zu tun.«
»Ja«, sagte Terel, lächelte und streckte sich auf ihrem Bett aus. Sie zerknitterte dabei ihr Kleid; aber das störte sie nicht. Schließlich mußte sie es ja auch nicht bügeln.
Nellie nahm leise das Tablett auf und verließ das Zimmer. Als sie in der Küche war, allein mit sich und ihren Gedanken, kam ihr Jace wieder in den Sinn. Wenn er es nicht auf das Geld ihres Vaters abgesehen hatte, hatte sie ihn gröblich beleidigt. Was hatte er gesagt, warum er ihr den Hof machte? Daß sie ihn nicht als Lügner hinstellen sollte oder so etwas Ähnliches.
Je mehr sie über die Szene vorhin in der Küche nachdachte, um so hungriger wurde sie. Sie versuchte, ihren Appetit durch reine Willenskraft zu zügeln; aber als sie sich wieder Jace’ Worte entsann, wuchs der Hunger noch mehr. Sie habe die Wahl zwischen sich und ihrer Familie, hatte er gesagt. Natürlich war ihr die Familie wichtiger als die eigene Person! War das nicht die Pflicht eines jeden Menschen? Lehrte nicht die Bibel, daß Geben seliger sei als Nehmen?
Nellie schleuderte den Brotteig auf den Küchentisch. Was für ein selbstsüchtiger Mann mußte Mr. Montgomery sein, wenn er nicht wußte, daß die größte Freude im Leben eines Menschen darin bestand, anderen etwas zu geben. Ihre Familie war ein Beispiel dafür. Ihr Vater schenkte seine Liebe seinen beiden Töchtern, ernährte und kleidete sie. Und Terel schenkte ihm und ihr ihre Liebe. Und als Gegenleistung für die Liebe ihres Vaters und ihrer Schwester kochte sie für die beiden, hielt ihnen das Haus sauber, bediente sie, machte für
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