Heimliche Wuensche
»Eines Tages, Nellie, wirst du dich entscheiden müssen — entweder ein eigenes Leben zu führen oder dich für deine Familie aufzuopfern. Ich bin bereit, dir bei dieser Entscheidung zu helfen, aber nicht, wenn du mich einen Lügner nennst und mir unterstellst, ich würde eine Frau nur hofieren, um an das Geld ihres Vaters heranzukommen. Wenn du dir ein bißchen mehr Zeit nehmen würdest, mich besser kennenzulernen, würdest du feststellen, daß ich keineswegs das bin, was du dir jetzt einzubilden scheinst. Ich bin . . .«
Er brach mitten im Satz ab. Er würde ihr jetzt nicht sagen, was er war. Wenn sie ihrer Schwester glaubte — das glaubte, was andere sagten, statt sich auf ihr eigenes Empfinden für das, was wahr ist, zu richten —, war das ihr Problem. Er war nicht bereit, sich vor ihr zu rechtfertigen.
Er nahm seinen Hut vom Küchentisch. »Wenn du eine alte Jungfer sein willst, ist das deine Entscheidung. Es war nett, dich kennenzulernen, Nellie«, sagte er, machte auf den Absätzen kehrt und verließ die Küche.
Einen Moment lang war Nellie so vor den Kopf geschlagen, daß sie keinen Gedanken fassen konnte. Sie stand wie gelähmt da und starrte auf den leeren Türrahmen.
Ja, dachte sie schließlich, Terel hatte also recht gehabt. Er war nur hinter dem Geld ihres Vaters her. Als er erkannte, daß er es nicht bekommen würde, und hörte, daß Nellie in seine hinterhältigen Pläne eingeweiht war, ließ er sie stehen und ging.
Einen Moment spielte Nellie mit dem Gedanken, ihm nachzueilen. Einen Augenblick lang schien es ihr unwichtig zu sein, ob er sie nur des Geldes wegen haben wollte, das sie eines Tages von ihrem Vater erben würde. Was auch immer sein Interesse an ihr geweckt haben mochte: Die wenigen Stunden, die sie mit ihm verbracht hatte, waren die glücklichsten ihres Lebens gewesen. Sie schloß die Augen und erinnerte sich wieder an diesen Augenblick, wo er sie auf der Mauer in seinen Armen gehalten hatte — an dieses Gefühl, als würde sie schweben. Sie erinnerte sich daran, wie er seinen Kopf in ihren Schoß gebettet hatte, während sie miteinander redeten. Sie dachte daran, wie er diese Hymne gesungen hatte und ihm dabei die Tränen über das Gesicht gelaufen waren. Und an das, was vorhin in der Speisekammer geschehen war. Sie hatte bisher noch nie so etwas wie Leidenschaft empfunden, und das war eine ganz neue, schwindelerregende Erfahrung gewesen. Sie faltete die Arme vor der Brust und rieb ihre Unterarme.
Geld, dachte sie. Er wollte nicht sie, sondern nur das Geld ihres Vaters. Und wie Terel gesagt hatte, machte er einer dicken alten Jungfer den Hof, um es zu bekommen.
Hinter ihr schwang die Küchentür auf. »Sie verlangt nach ihrem Lunch«, sagte Anna im mürrischen Ton, weil sie einen Handschlag machen sollte.
Nellie kehrte in die Gegenwart zurück. »Ja, ich komme schon«, sagte sie und nahm das Tablett mit der belegten Platte vom Küchentisch.
Terel saß, zwei Kissen in ihren Rücken gestopft, ihren seidenen Rock achtlos unter die Schenkel geschoben, auf ihrem Bett und las. Nellie setzte das Tablett auf dem Schoß ihrer Schwester ab und begann, Terels Kleider aufzuräumen.
»Da ist keine Blume.«
»Was?« erwiderte Nellie geistesabwesend. Sie sah noch immer Jace’ Augen vor sich. Er war so wütend auf sie gewesen. Vielleicht hätte sie ihm nicht vorwerfen sollen, was sie von Terel gehört hatte. Vielleicht hätte sie erst ein paar Beweise dafür sammeln sollen, daß seine Absichten unehrenhaft waren. Vielleicht . . .
»Du legst sonst immer eine Blume auf mein Tablett«, sagte Terel in einem Ton, als wäre sie den Tränen nahe. »Oh, Nellie, du magst uns nicht mehr — denkst nur noch an ihn!«
Nellie nahm das Tablett wieder von Terels Schoß, zog ihre jüngere Schwester an ihre Brust und streichelte ihr die Haare. Mein Kind, dachte Nellie. Terel ist das einzige Kind, das ich jemals haben werde. Einen Moment war ihr selbst nach Weinen zumute. Vielleicht war die einzige Chance in ihrem Leben, ein eigenes Heim und Kinder zu bekommen, soeben aus dem Haus gegangen.
»Selbstverständlich mag ich dich«, sagte Nellie. »Ich bin in letzter Zeit so mit Arbeit überhäuft gewesen, daß ich die Blume glatt vergaß. Das bedeutet doch nicht, daß ich dich nicht mehr lieb hätte.«
»Du liebst Vater und mich mehr als ihn?«
»Selbstverständlich tue ich das.«
Terel drückte Nellie heftig an sich. »Du würdest nicht mit ihm durchbrennen und uns alleinlassen?«
Nellie löste sich
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