Heimliche Wuensche
»Wenn etwas davon bekannt wird, weiß ich, woher die Leute es wissen«, sagte sie in drohendem Ton.
»Sie können meinetwegen Ihre Schwester so oft eintunken, wie Sie wollen«, sagte der Junge, sich von ihr zurückziehend. »Mir ist das egal. Aber wenn Sie dabei einen Helfer brauchen — Duke ist mein Name.«
Sie funkelte ihn böse an und weigerte sich, ihn bei seinem Spitznamen zu rufen, den er sich selbst zugelegt hatte. »Ich werde dich nicht mehr brauchen. Geh nach Hause.«
Er grinste abermals und rannte davon.
Terel erschauerte in der kalten Morgenluft. Sie spürte, daß die frischen, klaren Tage des Spätherbstes fast vorüber waren und bald der Winter einziehen würde. Sie hob ihr Ballkleid ein wenig an und begab sich auf den Heimweg. Sie war seit gestern, der Nacht des Erntedankfestballes, nicht mehr zu Hause gewesen — die Nacht, die um ein Haar ihr Leben vollkommen verändert hätte.
Sie zerknüllte den Brief, den Jace an Nellie geschrieben hatte, und schritt dann schneller voran. Es würde Wochen dauern, bis Jace Montgomery nach Maine kam und wieder zurück, und in dieser Zeit wollte Terel Nellie davon überzeugen, daß Jace Montgomery ein Schuft war und sie verlassen hatte. Sie lächelte im fahlen Grau der anbrechenden Dämmerung und beschleunigte ihren Schritt noch mehr. Heute gab sie ihren Freundinnen eine Teeparty und würde mit ihnen den Ball erörtern. Und dabei gedachte sie ein unglaublich pikantes Gerücht in die Welt zu setzen.
Nellie erwachte mit einem leisen Schreck, und glaubte zunächst, was sich da in der letzten Nacht ereignet hatte, wäre nur ein Traum gewesen. Doch als sie das wunderschöne Ballkleid sah, das an der Innenseite ihrer Tür am Bügel hing, und es immer noch da war, als sie die Augen ein paarmal schloß und wieder öffnete, legte sie sich ins Kissen zurück und durchlebte noch einmal mit geschlossenen Augen die Ballnacht. Wie sie in Jace’ Armen über die Tanzfläche schwebte. Wie sich sein Grübchen zeigte, wenn er sie anlächelte. Sie erinnerte sich, wie stolz sie gewesen war: stolz auf ihn, stolz auf sich selbst, stolz darauf, sich so lebendig zu fühlen. Er hatte sie geküßt, als er sie nach Hause brachte — hatte sie geküßt und ihr gesagt, daß er sie liebte.
Nellie hatte nichts darauf erwidert. Was sie für Jace empfand, war mehr als Liebe — es war eher eine Verehrung. Er veränderte ihr Selbstwertgefühl. Er veränderte die Art, wie sie die Welt betrachtete. Er veränderte die Weise, wie die Leute in Chandler sie betrachteten, mit ihr sprachen, über sie dachten. Was sie für ihn fühlte, war beträchtlich mehr als Liebe.
Langsam erhob sich Nellie aus ihrem Bett und begann sich anzukleiden. Sie meinte noch immer zu schweben nach dieser Ballnacht. Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich wunderbar. Einen Moment lang wirbelte sie in ihrer Unterwäsche im Walzertakt durchs Zimmer.
Sie hielt inne und lächelte. »Große, dumme Kuh«, schalt sie sich, aber es war keine richtige Schelte. »Hör auf zu träumen und geh an die Arbeit.« Sie nahm ihr Korsett hoch, streifte es über den Kopf und fing dann an, es vorne zu verschnüren.
»Das ist seltsam«, sagte sie laut. In der Regel mußte sie kräftig ziehen, ehe die Seitenteile einen Abstand von vier Zoll zueinander hatten; aber heute morgen betrug dieser Abstand nur noch zwei Zoll. Sie zog ihr altes braunes Kleid an. Gestern hatte es noch so stramm gesessen, daß sich die Korsettstangen unter dem Stoff abzeichneten; doch heute schlotterte ihr das Kleid förmlich am Leib.
Nellie lächelte. »Wahrscheinlich kommt das vom vielen Tanzen«, sagte sie und eilte aus dem Zimmer.
Den Rest des Tages über fand sie keine Zeit mehr zum Nachdenken, denn sie hatte ein enormes Arbeitspensum zu bewältigen. Ihr Vater verhandelte mit Geldgebern, und sie mußte das Essen für diese Leute kochen. Terel hatte einige von ihren Freundinnen zum Tee eingeladen, und dafür mußten Kuchen gebacken und mit Glasur versehen werden.
So gegen drei Uhr nachmittags war sie vollkommen erschöpft. Sie war nicht eine Sekunde zum Sitzen gekommen; hatte aber nicht einen Moment an diesem Tag zu lächeln aufgehört. Zum erstenmal schien sie es jedem recht gemacht zu haben.
Beim Frühstück hatte ihr Vater sie angestrahlt und gesagt, er habe gehört, daß Mr. Montgomery Gefallen an ihr gefunden hätte. Er sagte auch etwas von Schiffen, was Nellie aber nicht verstand; aber sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher