Heimstrasse 52
den Augen. Die Zeit vergeht schnell, während die beiden Frauen den Raum mit ihren Worten füllen, in einer Wolke aus Wohlklang schweben, die beide verbindet.
Gül entgehen Aysels eingefallene Wangen nicht, die Ringe unter den Augen, ihre Freundin sieht müde aus, fast schon gebeugt, das Lächeln auf den Lippen reicht nicht, um auch den Rücken aufzurichten.
Sie geht dort vor die Hunde, denkt sie später, als die beiden sich schon verabschiedet haben, sie geht zugrunde in jener Stadt, Tag für Tag, Stück für Stück, und wie kurz ist sie erst dort. Was Medet nicht geschafft hat, scheint Istanbul zu besorgen.
Wie würde es Gül ergehen, wenn sie nicht mehr jeden Monat Geld von der Bank abheben könnte? Welche Sicherheiten hat sie? Die paar goldenen Armreife, die sie besitzt, und dazu noch einige Münzen, ebenfalls aus Gold. Wie weit würde sie damit kommen? Und wem würde sie danach zur Last fallen können? Weder ihrem Vater noch ihren Töchtern, weder Melike, auf die sie sich nicht verlassen möchte, noch Nalan, die mittlerweile allein mit zweifelhaftem Ruf eine Tochter großzieht, noch Emin, dessen Geiz fast schon sprichwörtlich ist. Sibel. Nur Sibel fällt ihr ein. Die kleine Sibel, die so krank war, dass sie sie schon nicht mitgezählt haben, als sie nach dem Tod ihrer Mutter eine neue Frau für ihren Vater suchten. Sibel, die die Vergangenheit festgehalten und in einem Stall versteckt hat. Sibel, die sie mit offenen Armen aufnehmen würde, daran zweifelt Gül nicht. Doch sie möchte niemandem zur Last fallen, |278| sie will ihr Leben nicht auf Kosten anderer bestreiten. Wie hat sie ihren Vater so oft sagen hören? Eher esse ich meinen eigenen Schwanz, als dass ich beim Metzger um ein Stück Fleisch bettele. Nicht mal einen Knochen würde ich als Almosen nehmen. Alles habe ich im Schweiße meines Angesichts verdient, damit mein Rücken gerade und meine Schultern straff bleiben.
Den ganzen Frühling über wälzt Gül die Frage in ihrem Kopf hin und her, während sie mit der Diät Pfund um Pfund verliert, ohne sich leichter zu fühlen. Diese Frage, die ihr schlaflose Nächte bereitet hat und die sie mit niemandem besprochen hat, auch nicht mit Sibel, obwohl sie einige Male versucht war, ihre kleine Schwester nach deren Meinung zu fragen. Diese Frage, die so schwer zu stellen ist, als müsste man Steine hochwürgen.
– Könntest du tatsächlich mal schauen, ob es eine Möglichkeit gibt, mich nach Deutschland zurückzuholen?
Gül hängt zusammen mit Ceyda auf dem Dach Wäsche auf, und es klingt so leicht, als würde sie um eine Zigarette bitten.
– Ja, mache ich, sagt Ceyda, als würde sie eine aus der Packung schütteln. Und als würde sie nach einem Feuerzeug tasten, fügt sie hinzu: Das kriege ich schon hin.
Den Rest des Sommers verlieren die beiden kein Wort mehr darüber.
– Du scheinst nicht kommen zu wollen, sagt Gül zu Fuat. Das Beste wird wohl sein, ich komme nach Deutschland zurück. Ceren ist verheiratet, ich sitze hier den ganzen Tag herum, irgendeine Arbeit wird sich schon finden, und wenn ich putzen gehe.
Diese Sätze kosten sie nicht mal Mut, den hat sie auf dem Dach gebraucht.
– Wie stellst du dir das vor, möchte Fuat wissen, der auch |279| dieses Mal wieder braungebrannt in den Urlaub gekommen ist. Du hast keinen Pass mehr, keine Aufenthaltserlaubnis, du hast die Rückkehrerhilfe in Anspruch genommen, in Deutschland hat alles seine Ordnung, wie willst du das also anstellen? Ich glaube nicht, dass das geht.
– Ceyda sagt, es ginge. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern, sagt Gül.
– Wie stellst du dir das vor auf zwanzig Quadratmetern, mein Apartment ist kleiner als unsere erste Wohnung dort, wo willst du da hin?
– Es ist nicht die einzige Wohnung, die es dort gibt, sagt Gül.
Fuat nimmt den Sportteil der Zeitung in die Hand, etwas erstaunt über diese Bestimmtheit, doch er scheint nicht daran zu glauben, dass Gül nach Deutschland kommen wird, also nickt er einfach zustimmend, bevor er sich einem Artikel über Galatasaray widmet.
In den folgenden Monaten wird er sich verfluchen dafür, dass er diesen Moment so hat verstreichen lassen.
Ceyda setzt alles in Bewegung, um ihrer Mutter eine Rückkehr zu ermöglichen, und nach anfänglichen Schwierigkeiten sieht es schon bald so aus, als würde es tatsächlich gelingen.
Am Telefon weiß Fuat nun gar nicht mehr, was er sagen soll, die Wohnung ist zu klein, viel zu klein, so auf die Schnelle lässt sich nichts Neues
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