Heimstrasse 52
die privaten Kanäle gibt, geht der Verleih von Videos so weit zurück, dass nach und nach alle dieses Geschäft aufgeben.
Nur weil so plötzlich das Leben aus dem Haus ist, werde ich trübselig, weil die Wohnung zu groß ist für eine Person, nur weil Ceren kein Telefon hat, nur weil ich vorher jeden Abend zufrieden war, nur deswegen erscheinen mir Ceydas Worte und Deutschland auf einmal so verlockend, sagt Gül sich. Und verbietet es sich, weiter darüber nachzudenken. Was soll sie schon in Deutschland?
Ihr Vater kommt sie fast jeden Tag besuchen, sie schaut öfter als früher bei Sibel vorbei, ratscht mit den Nachbarn, geht immer an Hayris Laden vorbei und nimmt trotz ihrer vielen Kilos gerne einen weiteren Weg mit vollen Netzen in den Händen in Kauf.
Sie sitzt in der Küche, kocht und isst gegen etwas an, von dem sie nicht weiß, ob es Trauer ist, Langeweile, Leere, Melancholie oder Angst. Sie sitzt wieder in der Küche, und wenn ihr Mund nicht beschäftigt ist, sind es ihre Hände, mit Kochen oder mit Handarbeiten oder auch mit dem Umblättern der Seiten. Sie liest nicht mehr die Satiriker, Widrigkeiten entlocken ihr kein Lächeln mehr, sie liest Romane, ausländische Romane, die ihr von anderen Sorgen und Problemen berichten, Bücher, in denen sie sich und ihre Umgebung nicht wiederfindet, aber das möchte sie auch gar nicht, sie liest, als würde sie den Fernseher laufen lassen.
In diesem Jahr nach Cerens Hochzeit geschieht es mehr als einmal, dass der Schmied mit Flecken auf dem Anzug bei Gül ankommt.
|273| – Was ist passiert?, fragt Gül beim ersten Mal.
– Wieso, was soll geschehen sein?, entgegnet der Schmied etwas zu schnell.
– Du hast Flecken auf dem Anzug, sagt Gül und beginnt ihn abzuklopfen.
– Wirklich? Hm, weiß gar nicht, woher die kommen.
Während sie notdürftig den Staub aus der Jacke klopft, sieht Gül die schwieligen, trockenen Hände des Schmieds, die er sogar mit dieser sandigen Seifenpaste nie ganz sauber bekommt. In seinen Handflächen sind tiefe, rote Schrammen.
– Bist du etwa hingefallen?
– Nein, sagt Timur, nein, nein. Wie kommst du denn darauf?
– Weiß nicht, sagt Gül und wechselt das Thema.
Als sie ihn später zur Tür bringt, bemerkt sie die Kratzer am Tank des Mopeds, das ramponierte Pedal, den Lenker, der leicht verzogen zu sein scheint.
Es ist das erste Mal, dass sie mitbekommt, dass ihr Vater gestürzt ist. Es werden noch viele Stürze folgen in den kommenden Jahren, unbemerkte und nicht zu verbergende. Die Autos werden schuld sein, die schlechten Straßen, der Platzregen, die Pfuscher in der Werkstatt, und niemand wird ihm dieses Moped ausreden können, und nie wird er sich ernsthaft verletzen, und die großflächigen Abschürfungen, die er manchmal davonträgt, wird er mit einem Lächeln abtun. Nicht, weil er jemandem etwas beweisen möchte, sondern weil er noch nie wehleidig war.
Mein Vater braucht langsam jemanden, der sich um ihn kümmert, denkt Gül und schiebt den Gedanken an Deutschland noch weiter weg. Ceyda fragt am Telefon auch nicht nach, und so vergeht ein Winter zwischen Stimmen aus dem Fernseher, Gerichten auf dem Gasherd und der Frage, warum Leere sich so schwer anfühlen kann.
Für drei Wochen fährt sie nach Erzurum, das junge Paar |274| besuchen. Dort ist es so kalt, wie sie es aus ihrer Heimatstadt nicht kennt, auch wenn Gül sich noch erinnert, wie sie nachts, wenn sie trinken wollte, die Eisschicht auf der Schüssel mit Wasser neben ihrem Bett erst mit dem Daumen eindrücken musste. Doch hier verwandelt sich kochend heißer Tee in einen roten Klumpen, wenn man mit dem Glas in der Hand auf eine Zigarettenlänge vor die Tür gehen möchte. Gül denkt, dass alles sein Gutes hat, auch diese Pfunde, die sie wenigstens ein bisschen vor der bitteren Kälte schützen.
Ceren ist schwanger, wie sie ihrer Mutter erst erzählt, nachdem Mecnun schon zu Bett ist. Er unterrichtet Grundschulkinder, wofür er nicht ausgebildet ist.
– Ich gebe mir Mühe, es zu lernen, hat er gesagt, aber wenn ich es kann, werden wir wahrscheinlich diese Provinz verlassen können, und ich werde wirklich als Deutschlehrer arbeiten. Zwei Jahre sind wir nur hier, die vergehen doch wie im Flug. Und so bekomme ich auch noch eine Zusatzausbildung, was soll ich mich da beschweren. Und wir stammen ja ursprünglich aus dieser Gegend, hier hat der Vater meines Großvaters noch gegen die Russen gekämpft.
Er hat gelächelt, sich einen Schluck von seinem Rakı
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