Heimstrasse 52
haben gefeiert, jetzt ist doch nicht der richtige Augenblick, um mich auf einen Zeitpunkt festzunageln.
– Sieh, sagt Gül nun und nimmt all ihren Mut zusammen. Er hat viel getrunken, vielleicht ist das die Stunde der Wahrheit. Sieh, wir haben jung geheiratet, wir waren beide fast noch Kinder. Es können viele Dinge geschehen auf dieser Welt. Wir haben zwei Kinder großgezogen, wir haben Dach und Bett und Geld und Sorgen geteilt, wir haben all diese Jahre gemeinsam verbracht. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?
– Nein, sagt Fuat, nein, was sollte es da geben? Wovon redest du? Jetzt sei doch nicht so ungeduldig, hetz einen Mann doch nicht so, ich komme zurück, du wirst schon sehen. Verdammt.
Für eine Woche fahren Ceren und Mecnun an die Südküste in die Flitterwochen, die Fuat ihnen spendiert hat. Ceyda |270| und Adem bleiben noch einige Tage, und sowohl Mutter als auch Tochter halten in dem ganzen Nachhochzeitstrubel nach einer Möglichkeit Ausschau, um ungestört reden zu können.
Am dritten Tag nach der Hochzeit sitzen sie gemeinsam auf dem Flachdach des Hauses, halbieren Aprikosen und legen sie auf einem Tuch zum Trocknen aus, die Tür, die auf das Dach führt, im Blick. Eine Viertelstunde arbeiten sie schweigend. Gül wartet, dass Ceyda das Wort ergreift. Sie rechnet mit allem Möglichen, aber nicht mit dem, was Ceyda nun sagt.
– Was wirst du tun? Mecnun und Ceren werden nach Erzurum ziehen, du wirst hier allein bleiben.
– Ja, sagt Gül, noch ein, vielleicht zwei Jahre, dann wird dein Vater nachkommen. Er hat hier schon Anrecht auf Rente, dort wird er eine Abfindung bekommen, und dann werden wir in diesem Haus hier leben.
Gül macht eine Pause und formt die Frage schon in ihrem Kopf: Und du, wie ist es bei dir? Was tust du und was wirst du tun?
Doch noch bevor sie ansetzen kann, überrascht Ceyda sie wieder, indem sie etwas sagt, das Gül in der Nacht der Hochzeit schon mal gehört hat:
– Komm doch zurück nach Deutschland.
Gül wiederholt die Worte murmelnd.
– Und wie soll ich das machen? Ich habe die Rückkehrerhilfe bekommen, ich habe keinen Pass mehr, keine Aufenthaltserlaubnis. Und ich weiß nicht, ob …
– Es wird sich eine Möglichkeit finden lassen, wenn du möchtest.
– Deutschland?, sagt Gül zweifelnd. Deutschland, ich weiß es nicht.
In etwas mehr als fünfzehn Jahren wird Ceren wieder in Deutschland sein, in einer Gegend, in der es Weinberge hat. |271| Als sei dieses Land ein Magnet, ein Magnet, der auch dann noch Kraft besitzt, wenn der Ruf des Geldes längst verklungen ist und die Unmutsäußerungen der Deutschen kaum mehr zu überhören sind. Als sei das Land eine Droge, von der man nicht mehr loskommt. Oder ein Fluch, der auf einem lastet. Oder ein Versprechen, das man nicht vergessen mag. Oder eine Bequemlichkeit, die man nicht mehr missen möchte. Vielleicht auch eine Heimat, deren Ruhe und Ordnung man schätzt, obwohl man sich gleichzeitig nach Überschwang und warmem Chaos sehnt.
– Überleg es dir, sagt Ceyda, und es klingt nicht, als würde sie es leichthin sagen. Überleg es dir in Ruhe, ich werde mal beim Ausländeramt fragen, was sich machen lässt. Ich bin dort, Vater ist dort, es wird schon irgendwie gehen. Tu einfach, was du für richtig hältst.
Ceyda sieht auf ihre Aprikosen hinunter, und Gül legt ihre Hand auf das Häuflein mit den Kernen, von denen einige schon in der Sonne getrocknet sind.
– Und bei dir?, fragt sie. Ceyda blickt auf.
– Mach dir keine Sorgen. Wirklich nicht. Wir sind aus dem gleichen Holz. Wir streichen nicht die Segel.
Es klingt nicht, als würde sie sich selbst oder jemand anderem Mut machen, es klingt, als käme eine melancholische Musik tief aus ihrem Inneren.
Eine Musik, die Gül auch in sich selbst hört, nachdem sie nun so lange zufrieden auf ihr Kissen gesunken ist. Güls Horizont ging bis zur Hochzeit, und ihr ist, als würde sie schon jetzt jeden Morgen allein in diesem Haus aufwachen, in dem die Einsamkeit von den Wänden hallt und sich mit Sorgen mischt.
Wir streichen nicht die Segel. Dieses Boot wird einen Weg finden, das Wasser ist weit, und die Welt ist groß.
|272| Am Ende des Sommers gewöhnt Gül sich an, den Fernseher den ganzen Tag über laufen zu lassen, damit die Stimmen ihr Gesellschaft leisten. Selten schaut sie auf den Bildschirm, es gibt jede Menge neuer Kanäle, doch Gül achtet nicht auf das Programm. Auch bei anderen läuft der Fernseher nebenbei, selbst wenn Besuch da ist. Seit es
Weitere Kostenlose Bücher