Heimstrasse 52
von ihrer Zigarette und schaut Gül nachdenklich an. Dann stellt sie eine Frage, die Gül nicht versteht. Als Antwort zieht sie also einfach die Schultern hoch und reißt die Augen auf.
Die Frau lächelt, an ihrer Zigarette ist der Abdruck ihres Lippenstiftes.
– Ich dachte, Sie spielen mit dem Hund, sagt sie nun. Spielen? Nein?
Sie geht an die Mauer, der Hund kommt angelaufen, kläfft sie an, aber sie lässt sich nicht beeindrucken. Ist es vielleicht wirklich ihr Hund?
Sie steckt die Zigarette zwischen die Lippen, greift dem Hund mit einer Hand unter die Schnauze und streichelt ihn mit der anderen zwischen den Ohren. Dann nimmt sie einfach beide Taschen und bringt sie den Frauen, die sie mit ungläubigen Augen ansehen.
|41| – Danke, sagt Saniye.
– Danke, sagt auch Gül.
– Das sind keine schlechten Menschen, diese Deutschen, sagt Saniye später im Bus, sie hätte deinen Armreif nehmen und damit verschwinden können. Einen Scheiß hätten wir dagegen tun können. Ich werde diese Sprache lernen.
Gül gibt ihr recht, auch wenn sie sich fragt, warum die anderen auf den Balkonen gestanden und einfach nur zugesehen haben.
– Weine, sagt der Mann im Büro zu Gül, verstehst du, es gibt immer eine Möglichkeit. Du musst weinen beim Amt und sagen, dass du diese Arbeitserlaubnis brauchst. Und zwar jetzt. Wenn du nicht weinst, werden sie sich nicht erweichen lassen, ich kenne die. Verstehst du? Weinen.
Immer wieder schärft ihr der Mann das ein und macht es ihr sogar vor, bis er sicher ist, dass Gül es verstanden hat. Sie ist eine gute Arbeiterin, aber er kann sie nicht länger dabehalten, schon jetzt kostet es Mühe, ihre Arbeit aus den Büchern zu halten. Bald hätte sich das erledigt, weil Gül bereits ein halbes Jahr in Deutschland gewesen wäre, aber nun hat sich das Gesetz geändert, und er müsste sie noch weitere sieben Monate durchmogeln. Sie braucht einen anderen Status.
Arbeitsamt, es ist eines der Wörter, deren türkische Entsprechung Gül erst viel später lernen wird. Sie weiß, was es ist und aus welchen Gründen man dorthin geht, aber genauso wie bei Krankenkasse oder Krankmeldung, Urlaubsgeld, Weihnachten oder Ostern kennt sie kein türkisches Wort dafür.
Sie kennt gerade mal genug deutsche Wörter, um dem Mann beim Arbeitsamt die Situation zu schildern. Außerdem hat ihr der Chef aus dem Büro einen Brief mitgegeben. Und obwohl dieser Chef es ihr wieder und wieder eingeschärft hat, schafft sie es nicht zu weinen.
|42| Wir hatten eine Griechin hier, hat der Chef gesagt, die war in der gleichen Situation wie Sie, und sie hat dort gesessen und bittere Tränen geweint, sonst hätten sie keine Ausnahme gemacht. Dort arbeiten auch nur Menschen, die haben auch ein Herz.
Doch Gül sitzt da, die Hände im Schoß, und fragt sich, ob ihr die Arbeit doch schwerer fällt, als sie zugeben möchte. Oder ob sie sich schämt vor diesem fremden Mann. Was Fuat dazu sagen wird, wenn sie auch bei dieser Stelle nicht bleiben kann. Wie es sein kann, dass man die Arbeitserlaubnis auf einmal nicht mehr nach einem halben Jahr bekommt. Saniye hat gleich eine Arbeitserlaubnis bekommen, weil sie zum Arbeiten hierhergekommen ist und nicht wie Gül ihrem Mann gefolgt.
Noch immer weiß Gül nicht, was Saniye eigentlich allein in Deutschland macht, sie fragt nicht, aber als sie es erfährt, ist sie froh, nicht gefragt zu haben.
– Du konntest nicht weinen?, sagt Saniye am nächsten Tag. Ach, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, ich hätte Rotz und Wasser geheult, dieser Mann wäre ertrunken, so hätte ich geflennt.
Es ist ihr letzter gemeinsamer Heimweg, Saniye wird in der Brotfabrik bleiben, Gül wird wieder in der Küche sitzen.
– Es ist nicht leicht, sagt Gül, einfach auf Kommando zu heulen.
– Ja?, sagt Saniye und sieht Gül mit glasigen Augen an. Was Gül erschreckt, sind nicht die Tränen, die sich bereits langsam an den Lidern sammeln, sondern die Trauer, die auf einmal in Saniyes Augen ist. Als hätte sie die ganze Zeit im Hintergrund gelauert auf ihren Auftritt. Als hätte Gül es richtig erkannt am ersten Morgen an der Bushaltestelle.
– Ich habe alles an einem Tag verloren, sagt Saniye, meinen Vater, meinen Mann, meinen Sohn. Egal, wie viel ich weine, es wird nie reichen.
|43| Gül schaut sie ratlos an und wünscht sich, sie wüsste nun die richtigen Worte.
– Ja, sagt Saniye, an einem Tag.
Eine Stunde später sitzen sie in Güls Küche, Fuat ist bereits zur Arbeit gegangen, und
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