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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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Alper angelegt. Alper hat geglaubt, mein Vater wolle ihm Angst machen, aber mein Vater hat gesagt: Ich hatte dich gewarnt, und hat abgedrückt.
    Er kam ins Gefängnis, meinen Sohn hat mir meine Schwiegermutter genommen, weil ich alleine nicht für ihn sorgen konnte, mein Mann war tot.
    So bin ich nach Deutschland gekommen, sagt Saniye. Ich könnte zwei Leben lang weinen, und es würde immer noch nicht reichen.

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    |46| II
    Gül stützt sich mit den Ellenbogen auf den Zaun und sieht die Straße hinab in die Richtung, aus der der Postbote kommen muss. Vielleicht hat er einen Brief von Ceyda, von ihrer Schwiegermutter oder von ihrer Freundin Suzan, die in der Türkei ihre Nachbarin gewesen ist und schon lange vor ihr nach Deutschland gegangen war. In Duisburg hat sie gewohnt, wo auch immer das sein mag, Gül hatte gedacht, es sei ganz in der Nähe, aber Fuat sagt, dass man nicht einfach so dorthin fahren könne. Suzan hatte wenigstens ihre Kinder bei sich, aber die mochten das Land genauso wenig wie sie. Die Deutschen sind so kalt, hatte Suzan aus Duisburg geschrieben, als Gül noch in der Türkei war, und sie reden so wenig, dass es sich kaum lohnt, die Sprache zu lernen. Sie hatte Italienisch gelernt von den Italienern in der Nachbarschaft, und mittlerweile kommen ihre Briefe aus Neapel, wo die Familie hingezogen ist.
    Güls neue Nachbarn sind Spanier, Griechen, Türken und auch einige wenige Deutsche. Die Heimstraße, wo sie nun wohnen, ist nicht asphaltiert, es gibt keinen Gehweg oder gar Gehwegplatten, wenn es regnet, sammelt sich das Wasser in braunen Pfützen, und selbst die Deutschen ziehen dann ihre matschigen Schuhe noch vor der Haustür aus.
    Jedes Haus der Siedlung hat einen kleinen Vorgarten und nach hinten raus einen größeren Garten, in dem man Obst und Gemüse anbauen kann und einen Stall hat, für den Fuat Hühner kaufen möchte. Es gibt eine große Küche und eine Wohnstube unten und im Obergeschoss zwei Kammern. Die |47| Toilette ist im Haus, wenn auch am Ende des Ganges, der von der Küche in den hinteren Garten führt.
    Ein wenig ist es wie zu Hause, denkt Gül, hier hat man Platz, hier kann man atmen, die Erde unter den Füßen und Händen fühlen, und vor allem ist hier Platz für die Kinder. Bald wird sie sich nicht mehr auf den Zaun vom Vorgarten stützen müssen und sehnsüchtig auf den Briefträger warten, wie so oft in den letzten Monaten, wenn sie in der nahegelegenen Wollfabrik die Spätschicht hatte.
    Vier Wochen nachdem sie in der Brotfabrik hatte aufhören müssen, hatte sie eine Arbeitserlaubnis bekommen, bei einem anderen Arbeitsamt.
    – Wieso geht das denn auf einmal, ich verstehe das nicht, hat sie zu Fuat gesagt.
    – Bremen ist eine andere Provinz, die haben andere Gesetze, hat Fuat geantwortet, und Gül hat nur die Stirn gerunzelt. Das war ein komisches Land, alle zwei Schritte gab es eine Stadt, eine Kreisstadt oder ein Dorf, die Menschen schienen nicht viel Raum zu brauchen, aber dass sie enger beieinander lebten, führte nicht dazu, dass sie sich näherstanden.
    Mit ihrer Arbeitserlaubnis hatte sie in der Fabrik angefangen, in der auch Fuat arbeitete. Wenn Gül Spätschicht hatte, sahen sich die Eheleute nun noch seltener, da Fuat weiterhin nur nachts arbeitete. Und wenn er auch nach wie vor spielte und trank und unnötig großzügig gegenüber seinen Freunden war, das Geld mehrte sich.
    Fuat hat nun ein Mofa und fährt an den Wochenenden häufig ohne Schwierigkeiten und große Schlenker nach Hause damit, doch sobald er absteigt, hat er das Gefühl, seine Füße seien rund auf einem schwankenden Grund.
    – Wenn die Kinder da sind, sagt er, arbeite ich nicht mehr so viel nachts. Und er rechnet Gül wieder und wieder vor, wie viel Zulagen er bekommt, nur weil draußen die Sonne nicht scheint.
    |48| – Was soll ich mit der Sonne, tönt er, die scheint ja in der Halle eh nicht. Ob die Wolle nachts gewaschen wird oder tagsüber, macht für die Wolle und für mich keinen Unterschied, aber für die Lohntüte.
    Gül steht am Zaun mit beiden Beinen auf der Erde, doch ihr Herz fliegt jedes Mal vor Freude, wenn der Postbote einen Brief von Ceyda dabeihat.
    Meine Kleine, denkt sie, kaum im ersten Schuljahr, schon kann sie schreiben, schneller als die anderen, weil ihre Mutter sie alleingelassen hat und weil das ihre einzige Möglichkeit ist, selber Kontakt zu halten.
    Sie kommt wohl nach ihrer Tante Sibel, Güls jüngerer Schwester, die mit fünf eingeschult wurde, weil sie

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